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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Hinterland auch, überall dort, wo Ziegel gebacken wurden, reich an Domen und Hallenkirchen, Ratund Zeughäusern, dazu gesegnet mit Heiligengeisthospitälern und Sankt Georgshallen, mit Zisterzienserund Franziskanerklöstern, die allesamt, nicht nur die Bauten der Hanse im wendischen Quartier, der Backsteingotik zugeordnet sind und meine See, die schwachsalzige, sanfte, tückische, die quallenreiche Ostsee umsäumen. Zudem ist ein jeglicher Bau mit Kunstschätzen vollgestopft. Hier wird das Chorgestühl, dort das Zunftsilber bedeutend genannt. Dummstolze Inschriften unter Patrizierwappen reden sich Demut vor Gott ein. Überschlanke Madonnen muten dennoch geschwängert an. Flügelaltäre und holzgeschnitzte Kreuzigungsgruppen sind sehenswert, auch das Werkzeug der Peinkammern; und manchmal überraschen Reste erstaunlicher Wandmalerei.
Vom Dom zu Schleswig an der Schlei, dessen Bilder auf Kalkputz der Maler Malskat bis in den Kreuzgang hinein wieder gotisch gemacht hatte, erzählte ich schon. Daß er dem Lübecker Heiligengeisthospital unterm Lettner im Handumdrehen zu hochgotischen Fresken verholfen haben soll, ist bis heute umstritten. Doch verbürgt ist, wie er zuerst im Langhaus-Obergaden, dann hoch im Chor jener Marienkirche tüchtig wird, die, trotz französischer Kathedralenausmaße, als Mutterkirche aller Backsteingotik gilt und deren Siebenhundertjahrfeier bevorstand.
Malskat mußte sich eilen. Der Arbeitgeber Fey drängte. Schon hatte man im Langhaus das Gerüst abgetragen. Ein Staatsakt war vorgesehen. Sogar Sonderbriefmarken in zwei Werten der fünfzehner Wert mattgrün, der fünfundzwanziger rotbraun -, die beide des schnellen Malers Verkündigungsgruppe zum Motiv hatten, wurden in Millionenauflage gedruckt und verkauft, weshalb der bevorstehenden Feier Bedeutung zuwuchs und die Lübecker Kirchenleitung obendrein Gewinn machte.
Die Schwarzröcke kassierten hundertachtzigtausend immer noch neuglänzende Deutsche Mark, dem Maler jedoch, der, während das Geschäft lief, ewig verschnupft hoch im Gerüst stand, brachten jene Briefmarken, die heutzutage unter Sammlern ihren gesteigerten, ich vermute, sündhaften Preis haben, keinen roten Heller. Er, der Schöpfer der Verkündigungsgruppe, deren Ausdruck vom versammelten Kunstverstand gelobt wurde, ging leer aus.
Allen Geschäften enthoben: man hätte ihn glatt vergessen können, so vereinsamt hing Malskat hoch oben einem Gedanken an, der sich, dem Bohrwurm gleich, nicht abstellen ließ. Und als am ersten September des Jahres einundfünfzig endlich der Festakt in der Lübecker Marienkirche stattfand, saß unser schwindelfreier Maler, der drei Jahre lang zuerst im Langhaus. dann im Chor, fleißig gewesen war, dennoch nicht im Mittelpunkt des festlichen Geschehens, etwa zwischen geladenen Festgästen und Würdenträgern, wo, wie selbstverständlich, sein Arbeitgeber saß, nein, ganz hinten im Kirchenschiff, beim niederen Volk hatte er in vorletzter Reihe Platz gefunden; so sehe ich ihn und frage mich, ob der Gedanke, einmal gefaßt, immer noch bohrt. Und weit entrückt sahen ihn seine einundzwanzig Chorheiligen, die in sieben Dreiergruppen auf gemalten Säulenkonsolen standen, teils in seitlich weggeklappten Spitzenschuhen, teils barfüßig.
Näher standen Malskat, der sich auf seiner Hinterbank stillhielt, die vielen Heiligen im Langhaus. Jedes Joch des Obergaden zeugte von ihm. Aus Farbresten, die bei leichter Berührung stäubten, nach zuletzt noch vorhandenen Spuren, doch in der Regel aus sich heraus, hatte er seine Fundgruben gegen Pfenniglohn erschöpft. Leer, entleert saß Lothar Malskat auf der Hinterbank. In Dietrich Feys altem Anzug saß er, den jener in Schleswig zu Kreuzgangszeiten getragen hatte. Die Hose zu kurz, die Jacke in den Schultern zu knapp. Es kniff ihn, so eingeengt saß er. Als jämmerliche Scheuche mochten ihn von oben herab alle Heiligen sehen; und als späten Konfirmanden sah ihn von fern, aus dem Stirnfeld des Chores seine Jungfrau mit Kind. Die war berühmt mittlerweile und schmückte als Abbildung jenen Prachtband der Kunsthistoriker, der die Wandmalereien der Marienkirche zu Lübeck, ohne Malskat zu nennen, zum Wunder erhob.
Er lachte in sich hinein. Hatte die Jungfrau doch, wenngleich ihre Konturen wie von Jahrhunderten zernagt und von weißen Mörtelinseln zersiedelt waren, besonderen Ausdruck: der war wild, herb und von verschatteter Süße. Während einer Frühstückspause im Mai fünfzig das war, als die letzten

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