Die Rättin
hilft kein Schulfunk mehr. Was soll uns das Echo des Tages, wenn es den Nachhall vergangener Schrecknisse und Verbrechen mit zufälligem Geplapper übertönt? Die Programme löschen sich wechselseitig. Nichts darf haften und schmerzen. Löcherig nur erinnern wir uns: Da war doch was, war doch was, war was...
Nur noch Spuren. Als auf Anweisung der Lübecker Kirchenleitung die einundzwanzig Chorheiligen, grad um die Zeit, als sich die Militärbündnisse gegeneinander unter Vertrag stellten, mehr verschmiert als abgewaschen wurden, gingen neben dem Hauptwerk viele Kleinzeugnisse verloren, die Malskat hier aus Laune, dort seiner gotischen Zeitweil getreu in diesen und jenen Faltenwurf, ins Kapitell geflochten oder dem Ornament unterlegt, wie flüchtig gemalt oder in den Kalkgrund geritzt hatte. Offenbar Zeitgenössisches: Neben den Schnabelschuhen eines Heiligen im vierten Joch lese ich Nagelspuren eine Landkarte ab, auf der zwischen der Insel Rügen, die »Rugia« genannt wird, und der Peenemündung ein Kreuzzeichen Bedeutung hat, denn ihm ist der Name der versunkenen Stadtgekratzt: »Winneta« zugeordnet. Und im gemalten mittleren Kapitell des sechsten Jochs findet sich eine Miniatur, die drei Menschlein mit spitzschnäuzigen Tierköpfen, die zu dritt Flöten blasen, in einem Ornament vereint, das ganz natürlich dem Rankenwerk im Kapitell zuflösse, stünde nicht hinweisend seitlich in Kalkmörtel geritzt: »So geschehn auf joanis vnd paul zu hamelen.«
Deutlich sind es drei Knäblein, die Flöte blasen. Nacket sitzt das Terzett. Der Knäblein Häupter Rattenköpfchen zu nennen, habe ich keine Scheu; doch soll diese späte Entdeckung, diezugegeben auf unscharfen Ablichtungen beruht, kein nachgereichtes Beweisstück für den Lübecker Bildfälscherprozeß sein, zumal Malskat rechtskräftig verurteilt wurde und seine Strafe gutgelaunt abgesessen hat.
Es wurden ihm sogar einige Monate erlassen. Post kam zuhauf. Sein Ruhm glitzerte in schummriger Zeit. Den Skizzenblock und farbige Kreide nahm er in seine Zelle mit, brachte jedoch nur Belangloses zu Papier. Nie wieder Zeugnisse vergangener Schrecken. Kein gotischer Abglanz mehr. Inzwischen ist alles verjährt.
Sie spricht. Oder erlaubt sie mir, indem sie mich träumt, ungetrübt noch immer zu glauben, sie träume mir und habe, damit ich schweige, als Rättin eindeutig wieder das Wort genommen?
Und ist noch immer die Raumkapsel mein Ort? Bleibt diese Umlaufbahn ewiglich vorgeschrieben? Ellipsen träumen, leichte Abweichungen wünschen, einfach aussteigen, als wäre ich nicht angeschnallt.
Sie hockt in der Kuppel der Sternwarte neben dem Frauentor, das zur Mottlau führt. Sie sagt: Dieser Altbau, in dem schon der Astronom Johannes Hevelius am großen Quadranten saß und des Mondes Phasen überwachte, erlaubt uns, sichernd rundum zu blicken, und Rückblicke auch: Wir hätten zuschlagen müssen, schon längst. Bald wird es zu spät sein. Und ich sah, was die Rättin im Rückblick aussprach: So einig wir Rattenvölker uns nach dem Knall gewesen sind Überleben ist alles! -, so heftig stritten wir nach der Reviernahme der Watsoncricks. Unsere Andachten in der Marienkirche fanden nicht mehr zu jener Einfalt zurück, die dich, unseren lieben Freund, vermuten ließ, wir Ratten seien auf katholische Weise andächtig. Abermals zerrüttete uns eifernder, vor und hinterm Altar ausgetragener, die Pfeiler hoch, bis ins Netzgewölbe verschleppter Protestantismus, dieses Humangezänk über den richtigen Weg, diese alle Nasen krausende Rechthaberei, dieses allzumenschliche Entwederoder. Gründlich entzweit, hätten wir uns zerfetzen mögen. Forderten die einen: Fort mit den Nippels! Macht sie fertig, noch heute! hieß die Gegenforderung: Noch nicht. Abwarten. Wir wollen nichts übereilen. Sie jammerte: Dabei hatten wir alle einträchtig auf die Rückkehr des Menschengeschlechts gehofft, in welcher Gestalt auch immer. Trotz glimpflichen Überlebens und wohlgenährt wachsender Vielzahl fehlte der Mensch uns. Und wenn wir jene uralte, bis zur transportfähigen Leichtigkeit geschrumpfte Frau, zu deren Füßen das hutzlige Knäblein hockt, zum Ziel unserer Gebete gemacht haben, dann war es der Wunsch nach des Menschen Wiederkehr, der uns fromm werden ließ. Sogar jene blauweißen Winzlinge schlossen wir ein in unsere Gebete, auf daß sie hilfreich würden, uns ackern lehrten. Unser Gesang, dem du, Herr, gregorianische Qualität abzuhören bereit warst, sollte ihn, nur ihn, den Erlöser
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