Die Rättin
Weise sind deren Kinder, bevor sie zu Hänsel und Gretel wurden, daneben geraten? Sind sie normale Wohlstandsopfer? Sollen sie etwa immer noch Punks sein? Da unser Herr Matzerath vor seiner Reise nach Polen Antwort erwartet, muß ich mich festlegen. Auf keinen Fall soll sich das filmische Aussehen des Kanzlers vom Kanzler gegenwärtiger Machart ableiten. Doch sobald ich die Augen verkneife und mir einen Stummfilmkanzler vorstelle, werden allzu leicht Versatzstücke handlich, mit denen ein Baukastenkanzler erstellt werden könnte; damit er uns nicht zu ähnlich mißlingt, müssen wir ihn labil machen.
Deshalb schlage ich einen Kanzler vor, der unsicher auftritt, nicht weiß, wo er die Hände lassen soll, Angst hat, aus vorbereitetem Text zu fallen, doch aus Gründen, die allenfalls mit den Gesetzen der Schwerkraft zu deuten wären, im Amt bleibt. Wie man es anstellt, man kommt um ihn nicht herum. Und seine Gattin? Fortwährend sucht sie etwas im Handtäschchen. Ach, wären doch beide wieder zu Hause, wo es wohnlich ist. Mit sich zufrieden könnten sie leben, wäre er nur nicht Kanzler geworden, müßte sie nicht von früh bis spät des Kanzlers Gattin sein.
Die armen Kinder. Wie sie sich langweilen. Wie sie mal hierhin, mal dorthin gestellt werden, aber lieber woanders stehen, laufen, rumlümmeln, verloren sein möchten. Es stinkt ihnen, wie man sieht. Sie könnten kotzen, so ekelt sie das. Natürlich wären sie lieber Punks und trügen gefärbte Ratten an sich. Aber das dürfen sie nicht, weil unser Herr Matzerath neuerdings sagt: »Schließlich sollen sie in den toten Wald laufen und nicht im städtischen Dickicht herumirren.« Um ihn, der den Film produzieren soll, endgültig zu gewinnen, werde ich des Kanzlers Kinder mit Eigenschaften staffieren, die unseren Oskar an das Personal seiner Kindheit erinnern. Hat nicht, genau besehen, des Kanzlers Tochter eine gewisse Ähnlichkeit mit einem spillerigen Mädchen, das Ursula Pokriefke hieß, Tulla, überall Tulla gerufen wurde und in der Elsenstraße, im Mietshaus des Tischlermeisters Liebenau wohnte?
Und erinnert uns nicht des Kanzlers Sohn, der stets finster und wie vernagelt auf etwas blickt, das nicht da ist, an einen Knaben, der Störtebeker genannt wurde und als Anführer einer Jugendbande die Stadt Danzig und deren Hafengelände unsicher machte? Das war während der Schlußphase des letzten Krieges. Störtebeker und seine Stäuber waren weit über den Reichsgau Westpreußens hin in Verruf. Und war es nicht so, daß der kleine Oskar, als er gerade voll trüber Gedanken die Langfuhrer Herz-Jesu-Kirche verließ, dem Anführer Störtebeker und dessen Bande begegnete?
Beide sind als des Kanzlers Kinder immerhin denkbar: sie, zu jeder Tücke fähig, er, schroff abweisend, sie, frei von Angst, er, zu großer Tat bereit, sie dreizehneinhalb, er fünfzehn Jahre alt, sie und er, Kriegskinder damals, sind nun des anhaltenden Friedens unreife Früchte; beide haben den Walkman, ganz andere Musik im Ohr.
Auf dieses Paar angesprochen, erinnert sich unser Herr Matzerath an die Halbwüchsigen seiner Jugendzeit. »Richtig«, sagt er, »die kleine Pokriefke, ein Luder besonderer Art, wurde Tulla gerufen, war aber auch unter dem Decknamen Lucie Rennwand bekannt. Die hätte ich nicht zur Schwester haben mögen. Sie roch nach Tischlerleim und war gegen Kriegsende Straßenbahnschaffnerin. Richtig! Die Linie fünf. Fuhr vom Heeresanger bis rauf zur Weidengasse und zurück. Es hieß: Sie soll mit der >Gustloff< von Danzig weg und draufgegangen sein. Tulla Pokriefke, ein mir bis heute gewärtiger Schrecken.«
Er schweigt und gibt das Bild eines älteren Herren ab, der sich Gedankenflucht erlauben darf. Doch wie ich ihn fordere, ihm alle Ausflüchte sperren will, ruft er: »Aber jadoch, natürlich! Der Chef der Stäuberbande. Und ob ich mich erinnere. Wer hat denn damals nicht von Störtebeker und seinen Taten gehört? Der arme Junge. Immer den Kopf voller Flöhe. Man hat damals kurzen Prozeß gemacht. Ob er den Schluß überlebte? Was mag aus ihm geworden sein? Er hatte pädagogische Anlagen. Am Ende wird er einen Lehrer mehr abgegeben haben.«
Doch wie ich unseren Herrn Matzerath um die Bestätigung meiner Vorschläge bitte, wirkt er zerstreut und ein wenig müde; die Rückschau in seine Kindheit hat ihn erschöpft. Er reibt die umfassende Stirn, als müsse er besonders stechende Gedanken wegmassieren. Dann strafft er sich plötzlich, ist wieder Boß, entschlußfreudig. »Jaja«, sagt
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