Die Rättin
weil sie alles, nicht nur die Meereskunde satt hat, mit Damroka nach Vineta will.
Aus verwehtem Haar schreit die Steuermännin: »Klima! Wind! Alles Scheiße! Solche Schwankungen liegen außer menschlichem Einfluß. Die Tendenz zeigt Umkippen an!« Die Maschinistin hilft: »Und die Quallen? Unsere Ohrenquallen? Die schönen Medusen, wie sie bibbern und glibbern? Unser verdammtes Forschungsobjekt Aurelia aurita?« Weil Damroka mehrmals ruhig jeden Hol mit dem Meßhai untersagt hat und schweigend Kurs hält, redet die Meereskundlerin stellvertretend: »Im Grunde sind die Quallen ein Lebensbeweis der Ostsee. Denn wo Leben ist, ist Plankton. Wo Plankton ist, gibt es ausreichend viele Heringslarven. Und wo es Heringslarven und Plankton reichlich gibt, zum Beispiel in der Kieler Bucht, da gibt es auch auffallend viele Ohrenquallen, kapiert!?«
»Ja!« schreit die Steuermännin, »bis die See nur noch Qualle ist. Eine einzige Aurelia aurita.«
Die Maschinistin bleibt stur: »Unser Auftrag heißt...« Damroka schweigt. Die Alte hört unter Kopfschütteln zu. In Pausen hinein sagt sie aus der Kombüse heraus: »Ihr habt sie nicht alle!« oder: »Typisches Weibergezänk!« oder: »Hört endlich mit den verdammten Quallen auf, sonst koch ich euch welche mit Porree und Dill.«
Sicher, es geht um den Kurs, doch unterschwellig führen die Frauen privaten und nicht verjährten Streit mit sich, der mehrstöckig und verschachtelt zu sein scheint. Es mögen scharfkantige Wörter sein, die erinnert werden, die ich aber wie unbetroffen, vergessen habe. So nah sich alle fünf sind, und so leichthin sie bei Schönwetter einander Schwester nennen, kommt etwas quer, stoßen und reiben sie sich. Zu viele Königinnen. Es könnte geplant oder plötzlicher Eingebung folgend zum Mord kommen. Vergiftete Haarnadeln, Pülverchen fallen mir ein. Welche der Frauen hat vor, in Damrokas Kaffeepott Arsen oder Strychnin zu rühren? Haß züngelt, will aus dem Weg räumen. Wie man so sagt: Sie können nicht miteinander. Und doch verlangt mein Kopf ihnen Eintracht ab.
Der Butt bleibt ausgespart, denn nur Damroka spricht mit ihm. Deshalb müssen Quallen herhalten, solange gestritten wird. Obgleich es untergeschossig um mich, vor allem aber um Vineta, das neue Reiseziel geht, heißt es: Wann kippt sie um? Ist die Verquallung der Ostsee als Gefahr zu werten oder bedeutet sie Lebensbeweis? Warum überhaupt streiten wir über Ohrenquallen?
Sie gehören zur Familie der Scyphomedusen, sind keine nesselnden Feuerquallen, harmlos also, ein wenig langweilig in ihrer milchig bläßlichen Bläue und dennoch für jeden schön, den durchsichtige Körperlichkeit erstaunt oder fromm werden läßt, als habe man ihn vor Engel gestellt.
Aurelia aurita oder die gemeine Ohrenqualle ist in fast allen Küstengewässern zwischen siebzig Grad Nord und siebzig Grad Süd verbreitet. Durch Verdriftung ist sie so weltläufig geworden. Vor Hongkong und vor den Falklandinseln gesichtet. Im Schwarzen Meer, in japanischen, peruanischen Küstengewässern treten sie massenhaft auf. Sie blockieren die Kühlwassereinläufe von Kraftwerken. Nicht nur Heuschrecken, Borkenkäfer und Ratten, auch Ohrenquallen werden zusammenfassend Plage genannt.
Da alle Medusen geschlechtlich in Männchen und Weibchen geschieden sind, ist die Steuermännin ärgerlich. »Eine Marotte der Natur«, sagt sie, gibt sich aber halbwegs versöhnt, sobald ihr die Meereskundlerin demonstriert, daß die Spermien der Männchen nicht direkt, sondern mit der Nahrung aufgenommen werden. Die Befruchtung der Eier im Ovar findet eher beiläufig statt. Die reifen Eier wandern über den Gastralraum in den Brutbeutel undsoweiter undsoweiter.
Im Forschungsraum der »Ilsebill«, der auch Eßund Gemeinschaftsraum ist, hängen zwischen Bullaugen Schautafeln, die den Entwicklungszyklus der Ohrenquallen, den Einfluß lokaler Windverhältnisse auf Quallenbestände und das Vorkommen der Aurelia aurita in Schemata abbilden. Eine Schautafel demonstriert die Aureliendichte in der Kieler Förde, die nächste in der Lübecker Bucht, die dritte vor Møns steiler Kreideküste, die vierte in den schwedischen Schären, die fünfte zwischen Gotland und Öland und die sechste östlich Rügen, im Tromper Wiek und vor der Insel Usedom. Alle Schautafeln, die die Meereskundlerin gehängt und zusätzlich mit gerundeten, leicht lesbaren Buchstaben beschriftet hat, beruhen auf Forschungsdaten, die zwischen den späten siebziger und den beginnenden achtziger
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