Die Rättin

Jahren erhoben wurden.
»Olle Kamellen!« sagt die Maschinistin, die von Forschung wenig, von direkter Anschauung viel hält. »Als wir vorgestern von Møns Klint losmachten, hat mir unser Maschinchen erzählt, wie verquallt die See ist. Wir sollten einen Quallenzähler in die Schiffsschraube einbauen. Jedenfalls habe ich, sobald wir Quallenfelder durchliefen, eine Fahrtminderung von einem Knoten abgelesen. Die bremsen ganz schön, eure Medusen!«
»Die Neue Ilsebill« läßt bei gleichbleibend ruhiger See, unter grauen, zu eiligen Fetzen verwehten Wolkenfeldern Bornholm hinter sich und steuert Visby auf Gotland an. Auf offener See nehmen die Quallenbestände ab, dennoch liegen Zwischenmessungen deutlich überm Durchschnitt. Die Steuermännin verlangt, daß bei verringerter Fahrt halbstündlich der Meßhai ausgefahren wird. Weil die Maschinistin zur Steuermännin hält, die Meereskundlerin nachgibt »Wir haben nun mal diesen blöden Forschungsauftrag!« und die Alte mal so und mal so spricht, muß Damroka die Fahrtminderung hinnehmen; mit einer Geste, die das Nachgeben zur Tugend erklärt, überläßt sie der Steuermännin das Ruder.
Die Alte sagt »Bleib heiter!« zu ihr.
Damroka sagt mehr zu sich: »Wir verlieren Zeit.«
Die Meereskundlerin sagt: »Unsinnig diese Messungen. Nur minimale Vorkommen. Nichts gegen einundachtzig.« Und Damroka, die ich weiß nicht, warum plötzlich wieder heiter ist, sagt: »Es hat schon immer Quallenjahre gegeben. Zum Beispiel, als nach dem Losentscheid der erste Schub der gotischen Völkerwanderung Gotland hinter sich lassen wollte. Da hatten die ollen Goten beim Abrudern ziemlichen Ärger. Einen halben Tag sollen die gebraucht haben, bis sie aus dem Quallenfeld waren, endlich Segel setzen und Geschichte machen konnten. Und als anno sechzehndreißig und zwar am 26. Juni Gustav Adolf die Insel Usedom ansegelte, um nahe Peenemünde mit fünfzehntausend schwedischen und finnischen Bauernburschen an Land zu gehen, mußte er nicht mit Tilly oder Wallenstein auf Teufelkommraus kämpfen, sondern mit Quallen, die unbelehrbar katholisch waren und die Landungsboote des Königs wie in Sülze eingeschlossen hatten. Trotzdem sind die Goten bis nach Rom und an ihr Ende gekommen. Trotzdem hat es den Schweden ziemlich lange in Deutschland gefallen. Ihr seht, Leute, kein Grund zur Aufregung. Alles schon gehabt und gegessen. Die See ist älter als unsere Sorgen.«
Diese Locken, dieser Überfluß, diese wetterbeständige Zuversicht. Leuchtturm ist sie und Riff zugleich. Ihre Beharrlichkeit, die jeden Streit wie einen zu hastig gestrickten Pullover aufribbelt. Sie taugt für Gleichnisse. Ich suche Zuflucht in Damrokas Haar. Ihr Schiff macht jetzt volle Fahrt. Die Steuermännin muckt nicht mehr. Die Meereskundlerin trägt letzte Daten ein. Irgendwo pfeift die Maschinistin falsch. In der Kombüse kocht die Alte Königsberger Klopse in süßsaurer Kapernsoße. Alle Frauen freuen sich auf mein Leibgericht. Ein schöner Traum bei ruhiger See und ablandigem Wind. Keine Rättin spricht mir dazwischen. Nur kurz unser Herr Matzerath per Autotelefon: Er sei jetzt mit Chauffeur unterwegs. In seinem Mercedes befinde er sich zwischen Düsseldorf und Dortmund. Er wünsche, daß ich seine Abwesenheit nutze. Der Fall Malskat erleuchte die trüben fünfziger Jahre. Er wolle sich in Polen keine Sorgen machen müssen. Gewiß komme er zurück. Ein Stehaufmännchen sei er, das niemand, auch ich nicht, sagt Oskar, zum Erliegen bringen könne. Er warne vor falschen Hoffnungen. Ende der Anweisungen per Telefon. Ach, Damroka! Sieh nur, wie harmlos die See kleine Wellen macht. Was heißt hier Weltenende. Im Traum noch Pläne zuhauf. Morgen rette ich wieder den Wald.
    Kinder, wir spielen Verlaufen und finden uns viel zu schnell.
    Was hinter den Sieben Bergen liegt,
wissen wir nun: das Hotel »Hinter den Sieben Bergen«, in dessen Kiosk niedliche Andenken
aus Zeiten der Unwissenheit käuflich sind,
als uns das Rumpelstilzchensyndrom
noch böhmisch war.
    Jedes Märchen gedeutet. Im Seminar stricken gute und böse Feen.
Das Genossenschaftswesen der Zwerge. Die Hexe und ihr soziales Umfeld.
Hänsel und Gretel im Spätkapitalismus oder was alles zum Drosselbartkonzern gehört. In einer Fallstudie
wird Dornröschens Tiefschlaf behandelt.
    Nach Meinung der Brüder Grimm jedoch, wären die Kinder,
könnten sie sich verlaufen, gerettet. Kein Schwarzweißfilm mehr. Matt glänzt der Zauberspiegel. Das Märchen von Hänsel und Gretel ist aus.