Die Rättin
festgelegt, so daß die Großcomputeranlagen im Sinne dieses letzten Kulturabkommens neuprogrammiert werden konnten...
Zum Schluß ihres Vortrages saß die Rättin, die meinen Traum bis dahin wie ortlos bewohnt hatte, in einer aus Kupferblech kunstvoll getriebenen Kanne flämischer Herkunft, spätes fünfzehntes Jahrhundert. Immer wieder gab ihr Vortrag der Kanne Anstoß, so daß sie rollte und die Rättin gegenan laufen mußte. Ist sie nicht wunderschön? rief sie, von hoher Qualität und wert, erhalten zu sein?
Ich sagte: Diese Kanne und ähnliche Stücke kenne ich aus dem Museum in der Fleischergasse. Als Schüler, damals schon kunstnärrisch, bin ich oft ins Museum gegangen: mit meinem Skizzenblock und den Kopf voller Flöhe. Und manchmal bin ich sogar während der Pause, weil das Gymnasium gleich nebenan...
Aus ihrer rollenden Kanne heraus sagte die Rättin: Und dieses Museumsstück aus der Fleischergasse überdauerte mit anderen Kunstgegenständen dank jener Bombe, die man während der ausgehenden Humanzeit Freundin der Künste genannt hat, obgleich man wußte, wie streng begrenzt diese Freundschaft war...
Mit kurzem Sprung verließ sie die flämische Kupferkanne, die noch lange nachschepperte, während die Rättin im Vordergrund weiter Bericht gab: sich überall gleichende Bilder. In den geschonten Kulturzentren des Abendlandes schrumpfte der Mensch, weil ihm bis zum Eintritt des Todes alle Feuchtigkeit entzogen wurde. Noch Monate nach dem Großen Knall, als wir Ratten, kaum ließ die Finsternis nach und milderte sich die Kälte, ans immer noch trübe Licht kamen und überall aufräumten, sahen wir lederne Menschlein, auf allen vieren zumeist, in kriechender, sich vergeblich aufbäumender Haltung, als wollten sie noch zuletzt ihre Fähigkeit zum aufrechten Gang zurückgewinnen. Diese Gestik! Soviel leidvolle Körpersprache! Wir erinnerten Zeiten frühgotischer Ekstase. Nein, nie zuvor hat der Mensch stärkeren Ausdruck gefunden als im Zustand seiner Entsaftung.
Und ich sah, was die Rättin, von der mir träumt, als Vergangenheit beschwor, sah auf Zwergenmaß geschrumpfte Leiber auf Straßen und Plätzen liegen, verschränkt sich bäumen, sah sie vor rußgeschwärzten Renaissancepalästen und auf Beischlägen gotischer Giebelhäuser, vor den Portalen backsteingefügter Kirchen, die unterm Ruß alle schön und erhaben geblieben waren: Rundwie Spitzbögen heil, keine Säule geborsten, alle Heiligen da, kein Turm gestürzt, kein Schlußstein, keine Kreuzblume, kein Dachreiter fehlte; der Mensch jedoch war nur noch Hülle, ein Schrumpfbild seiner selbst, tauglich, ich sah es, letztlich den Ratten zum Fraß.
Man hört nicht auf mich. Das mußte so kommen: Zwar nimmt »Die Neue Ilsebill« bei voller Fahrt und ruhiger See Kurs auf Gotland, aber an Bord des acht Knoten laufenden Schiffes stehen Meinungen hart gegeneinander.
Die Frauen streiten. Wie leise und schrill, spitz und widerhäkig, wie verletzend sie sein können. Tragödien, in denen Königinnen einander im Wege sind, blieben spielbar über Zeiten hinweg. Unsterbliche Rollen. Stimmen, die Fluch und Bann aussprechen. Jedes Profil schärfer gezeichnet. An Gesten reich, werden himmelwärts Hände verworfen. Verlängerte Zeigefinger, Beschwörungen. Das Haar wie Seeleninneres aufgewühlt. Diese Bewegung wirft weg, jene nimmt ein. Wie sie auf und ab schreiten, das Schiff unterm Himmel zur Bühne machen, federnd oder verwurzelt stehen und nie die Spannung abflachen lassen, erkennt man der Frauen langjährige Übung: so streitet nur, wer sich schöner im Streit erlebt.
Doch um was wird gestritten? Wessen Besitz soll gehalten, zurückgewonnen, geteilt werden? Ihr Königinnen: welche Krone ist strittig?
Es geht um den Kurs des Schiffes: Sollen, wie vorgesehen, die südschwedischen Schären nach Quallen abgefischt werden oder muß die »Ilsebill«, nur weil der Butt gesprochen hat, schnurstracks Visby auf Gotland und dann sogleich, als lasse man sich vom Plattfisch hetzen, Usedoms flache Küste ansteuern? Das ist die Steuermännin: »Die Quallen müssen Vortritt haben! Wann werdet ihr endlich begreifen, daß die Ostsee eines Tages umkippen wird. Nicht nur in Tiefen unter dreißig Metern. Nein! Insgesamt stinkend, tot.«
»Aber einundachtzig war ja die Kieler Bucht so gut wie umgekippt. Im Jahr drauf hier, die Meßdaten, macht euch schlau! lebte sie wieder. Verändertes Klima half, genügend Wind, verlagerte Strömungen.« Das ist die Meereskundlerin die neuerdings,
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