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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Alle lachen nach Filmschluß, sogar die Hexe lacht und nimmt das Ofenloch, in das sie gestoßen wurde, nicht übel. In schwarzer Taucherhaut umarmt der Froschkönig die Kanzlerkinder, denen ihre Vorgeschichte komisch vorkommt und unwirklich irgendwie, Hänsel sagt zu Gretel: »Mann, ohne Happyend wäre die Story ziemlich scharf oder?«
Nun reden alle, die sich in der Pension »Zum Knusperhäuschen« versammelt finden, von der guten alten Zeit, als Stroh gesponnen zu Gold wurde, drei Federn Wünsche offenließen, als die Märchen noch wahrsagten. Während sie, was vergangen ist, zu beschwören bemüht sind, werden sie immer trauriger: Wehmut steckt an.
Weil es nicht mehr regnet, muß der Froschkönig wieder ins Brunnenloch, legt sich die damenhafte Prinzessin, damit ihr der König in Froschgestalt auf die Stirn springen kann, was ihren Kopfschmerz lindert.
Auf der Treppe zur Haustür hockt das Mädchen mit den abgehauenen Händen, die schlaff an der Schnur hängen; es starrt auf seine blutverkrusteten Armstümpfe.
Aus einem der Fenster im Obergeschoß des Knusperhäuschens kämmt Rapunzel ihr Haar: Goldfäden bleiben schwebend im Bild.
Vor dem Haus und den Stallungen teilen Jorinde und Joringel einander durch Fingerspiel, als sei ihnen die Taubstummensprache geläufig, ihre Trauer und deren todtraurige Vorgeschichte mit.
Immer wieder muß Dornröschen vom Prinzen wachgeküßt werden, der diese Arbeit ohne Teilnahme, jedoch zuverlässig besorgt; Mal um Mal schlägt Dornröschen erstaunt die Augen auf, um neuerdings vom Schlaf eingenommen zu werden. (Wenn ich unseren Herrn Matzerath richtig verstanden habe, soll an anderer Stelle mehr über den Kußzwang gesagt werden.)
Noch immer im Haus steht Rumpelstilzchen gedankenverlo-. ren vorm großen Apothekerglas, in dem sich sein einst wütig ausgerissenes Bein und zwar vom Knie abwärts in Spiritus frischhält.
Mit stumpfem Blick, als wolle sie nicht mehr teilnehmen, sieht die Großmutter, wie Rotkäppchen zum Wolf geht, in den Käfig steigt, den Reißverschluß des Wolfsbauches öffnet, in den Bauch kriecht, ihn von innen verschließt.
Kurz schaltet die Böse Stiefmutter ihren Zauberspiegel ein, sieht sich in schwarzweißer Märchenfassung zum Spiegel sprechen, sieht darauf Schneewittchens hübsches Frätzlein im Spiegel, schaltet das Bild aus. Ihr böser Blick sucht Schneewittchen, das ein gläsernes Museumsstück, ihren Sarg in Kleinausgabe, streichelt.
Wie sie mit ihrer Kette spielt, an der sich luftgetrocknete Ohren reihen, wirkt sogar die Hexe bekümmert. Der Hausknecht Rübezahl starrt auf ihre enormen Titten und kriegt und kriegt den Blick nicht weg.
Vergeblich versuchen Hänsel und Gretel durch Fratzenschneiden und Quatschmachen die Märchenfiguren zu trösten. Zurufe wie: »Komm, Rumpelstilzchen, laß endlich dein olles Bein schlafen!« oder: »Kann ich was für dich tun, Hexe?« helfen nicht; wie Zauber liegt Trübsinn auf allen. Altbackenes Leid zehrt; doch steht noch größerer Kummer bevor. Von längerer Reise kommen mit Vertreterkoffern und in feingestreiften Flanellanzügen die Sieben Zwerge zurück. Mißmutig greifen sie nach ihren sieben Mützen an sieben Haken. Sie bringen schlimme Nachricht und holen allerschlimmste Beweise hervor: abgestorbene Äste, die Verzweigungsanomalien bezeugen »Das Lamettasyndrom!« -, kranke Rinde, Tannenzweige, von denen gebräunte Nadeln fallen, verdorrte Wurzeln und Fotomaterial, das in Segmenten Naßkerne von kranken Bäumen zeigt.
Diese Zeugnisse rufen die Märchengestalten in die gegewärtige Wirklichkeit zurück, sogar Rotkäppchen kriecht aus dem Bauch des Wolfes. Mit dem Untertitel »Die Triebe täuschen. Panik ist in den Bäumen!« weisen die Sieben Zwerge an todkrankem Geäst Angsttriebe und Scheinblüten nach. Auf Knopfdruck bestätigt der Zauberspiegel Tatsachen. Zum Stummfilmuntertitel der Bösen Stiefmutter »Spieglein, Spieglein an der Wand, wo stirbt der Wald im deutschen Land?«, sieht man Bilder aus dem Fichtelgebirge, dem Bayrischen Wald, dem Schwarzwald, aus dem Spessart, dem Solling und Thüringer Wald. Windbrüche, kahle Westhänge, stürzende Bäume, Baumleichen, Borkenkäfer.
Nun nicht mehr auf die Hexe fixiert, will Rübezahl das Riesengebirge sehen: »Da komm ich her!« Worauf der Bildschirm weit und breit abgestorbene Bäume zeigt.
Es ist, als habe sie jetzt schon das Ende eingeholt. Alle spüren, daß, wenn der Wald stirbt, auch sie sterben müssen. Schneewittchen und die Sieben Zwerge weinen. Die

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