Die Rättin
Hacke, der Sense. Und zur Dorfmusik spielen sie auf: ein Schlumpf bläst Trompete, ein anderer Flöte, dieser zupft den Baß und dieser sehen Sie, sehen Sie doch! trommelt auf einer rotweißen Trommel.« Kaum hatte ihn das bisher gehütete Wort verlassen, verstummte unser Herr Matzerath, um wenig später nur noch geschäftlich zu sprechen. Mit kurzen Schritten ging er auf und ab, die Finger unterm Buckel verschränkt. Er sprach von wachsender Konkurrenz auf dem Videomarkt, von Diebstahl, Raub, Videobanditen. So etwas Altmodisches wie ein Kinofilm lasse sich kaum finanzieren. Doch vielleicht sei das Thema Waldsterben geeignet, staatliche Förderungsmittel locker zu machen. Dieser Gedanke verlange dem Drehbuch allerdings Nebenhandlungen ab. »Es könnte sich«, schlug er vor, »Rumpelstilzchen, zum Beispiel, verlieben. Und zwar in das Mädchen mit den abgehauenen Händen. Anrührende Szenen wären möglich.« Dann wollte er wissen, ob für den Stummfilm
»Grimms Wälder« ein positiver Schluß wenn nicht denkbar, so doch machbar sei. »Es muß ja nicht jedes Märchen böse ausgehn!«
Schließlich stellte sich Oskar vor einen Spiegel für Athleten bemessen, zupfte an seiner Krawatte, stand mal so, mal so in ganzer Figur, belebte mit einer Bürste den silbrigen Haarkranz um die gebräunte, stets mit Glanzlichtern gesegnete Glatze und sagte, während das Haar noch knisterte: »Wie geht es übrigens Ihrer Weihnachtsratte? Und träumen Sie immer noch so katastrophal?«
Als ich ihm zum Abschied »Gute Reise« wünschte und nebenbei wissen wollte, ob jener für Anna Koljaiczek getürmte Baumkuchen womöglich vierundneunzig Zentimeter messe, gelang unserem Herrn Matzerath zwar das Lächeln ums Mündchen, doch waren seine Augen nun angstgerundet. Seitdem die Abreise feststeht morgen, endlich, reist er! -, glaubt er, die Schwärze wachsen zu hören.
Er sollte ein Telegramm schicken. Er sollte meinem Rat folgen. Wer wie er überall nur noch schwarzsieht, der sollte nicht nach Polen reisen. Unser Herr Matzerath fürchtet sich.
Wie oft haben wir uns gefragt: Warum? Doch seit dem Großen Knall wissen wir, wie euer Mangel hieß. Euch fehlte die Angst, sagte die Rättin. Dosch Minscher kijummes Balemosch! wiederholte sie auf Rattenwelsch, um dann mehr plaudernd von uns zu berichten: Zwar ist der Mensch aus ungezählt vielen Anlässen ängstlich gewesen und hat sich gegen alles, sogar gegen Schlechtwetter und Ehebruch versichert, auf daß die Menschheit immer süchtiger nach Rundumversicherungen wurde, doch die große Angst hatte sich, während Kleinängste blühten und ihr schnelles Geschäft machten, sozusagen verkrümelt. Vor dem Altar des Gottes Sicherheit habt ihr einander zugerufen: Nun müssen wir keine Angst mehr haben. Wir lassen uns nicht verängstigen. Wir schrecken einander ab. Vor allem muß Abschreckung glaubhaft sein. Das weiß der Russe, der Ami weiß das. Je mehr wir uns abschrecken, um so sicherer sind wir.
So habt ihr euch Mut gemacht, sagte die Rättin. Einander abschreckend, habt ihr die Angst von Stufe zu Stufe vertrieben. Sie hatte Hausverbot, durfte sich nirgendwo blicken lassen. Niemand wollte mit ihr gesehen werden. Am Ende waren die Menschen zu feige, Angst zu haben; und wer sie dennoch öffentlich vorwies oder gar, wie die Punks es taten, in Rattengestalt zur Schau stellte, als sei die Ratte verkörperte Angst, der wurde ins Abseits gedrängt. Frei von Angst wolltet ihr sein, wie ihr sorgenfrei, frei von Sünden, Schulden, immer schon frei von Verantwortung, Hemmnissen, Skrupeln, rattenfrei, judenfrei sein wolltet. Doch ist der angstfreie Mensch besonders gefährlich.
Nach längerem Gezischel auf Rattenwelsch, aus dem viel Brosches, der Zorn, sprach, sagte die Rättin: Haben wir doch gesehen, wie euch fehlende Angst blind und dann dumm gemacht hat. Für die Freiheit ist uns kein Opfer zu groß, hieß auf Plakaten einer der Heldensätze; dabei hattet ihr eure Freiheit seit langem dem Götzen Sicherheit geopfert. Unfrei, Gefangene umfassender Technik seid ihr gewesen, die alles, die letzten Zweifel gespeichert unter Verschluß nahm, so daß ihr am Ende von Verantwortung frei getilgt wurdet. Ihr Narren! Die letzten Reste Vernunft wie Käsebröcklein an nimmersatte Computer verfüttert, damit sie die Verantwortung trügen; und hattet dennoch dreimal geleugnete, verschnürte, zutiefst verpackte, in euch begrabene Angst, die nicht raus, sich nicht zeigen, nicht Mama! schreien durfte.
Seht, sagte die Rättin, ihr
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