Die Rättin
möchte er den Maler Munch, von dem Bilder voller Geschrei und Schweigen in Oslo zu sehen sind, in dessen Winteratelier besuchen, um von ihm Ausdruck zu lernen, aber keine Dienstreise bringt ihn dorthin.
Sonst ist aus seiner Soldatenzeit wenig zu berichten. Während Vormärsche in Rückzüge umschlugen, die Frontbegradigungen hießen, U-Boote nie wieder auftauchten, eine Stadt nach der anderen unter Bombenteppichen verging, der Führer immer seltener sprach, an Wunderwaffen geglaubt wurde und in noch namenlosen Vernichtungslagern Zugänge als Abgänge verbucht wurden, fertigte Lothar Malskat Landschaftspastelle nach norwegischen Motiven, die er gegen Zigaretten und Schokakola tauschte. Er ist schon immer ein starker Raucher gewesen. Doch das sagten alle Zeugen: Auf Befehl habe der bei Offizieren und Mannschaften beliebte Ostpreuße nie zum Pinsel oder zur Kreide gegriffen; aus Lust und Laune nur. Doch da geschah es, daß, während er im hohen Norden Wache schob, die Stadt Lübeck von britischen Bombern in der Nacht auf Palmsonntag des Jahres zweiundvierzig bombardiert wurde. Als Terrorangriff angezeigt, las Malskat verspätet davon in einer Soldatenzeitung. Besonders wurden die Innenstadt und die Backsteinkirchen getroffen. Das hatte der britische Luftmarschall Harris so gewollt. Die Marienkirche brannte aus. Mehrere Gewölbe im Chor stürzten ein. Als ein Notdach errichtet und die Chorgewölbe wieder zugemauert wurden, ließ der Bischof von Lübeck, der wie viele evangelische Pfarrherren ein Nazi war, im Chorschlußgewölbe das Hakenkreuz als Schlußstein setzen; Malskat muß diesen Ausweis der Lübecker Deutschchristen noch gesehen haben, als er im Jahre neunundvierzig mit seinen Farbtöpfen und der Drahtbürste hoch ins Gerüst stieg und viel Arbeit vorfand. Natürlich wurde das Hakenkreuz bald darauf weggemeißelt, das machte man überall so zu Beginn der fünfziger Jahre; der Bischof jedoch blieb, wenn er nicht gestorben ist, tiefinnerlich Nazi bis heutzutage.
Und wenn der Maler Malskat, wie unser Herr Matzerath seit längerem erwägt, nicht nur amerikanisches Geflügel, sondern unter dem Judaskuß im zweiten Feld neben der Tür, anstelle sich abwechselnder Adler und Löwen, Ratten, laufende Ratten gemalt hätte, die von Medaillon zu Medaillon mit gekringelten Menschlein zu paaren gewesen wären? Und wenn er dieses Motiv, gereift nach den Kriegsjahren, weitergeführt hätte, wenn ihm als Fabelbild im sogenannten Tierfenster neben der Lübekker Briefkapelle die Vereinigung, mehr noch: die Versöhnung von Ratte und Mensch in gotischer Manier gelungen wäre? Es sind aber bei Malskat Ratten nicht nachzuweisen. Über Truthähne langte er nie hinaus. Freilich könnten, weil seine einundzwanzig Heiligen im Hochchor bald nach dem Prozeß brutal abgewaschen wurden, wovon schmutzige Felder bis heute zeugen, Vermutungen offenbleiben: er habe doch ins eine oder andere Säulenkapitell, auf dem seine Heiligen in Dreiergruppen dicht bei dicht standen, Rattenmenschen zwischen Blattornamente geflochten. Nach so viel Wacheschieben im hohen Norden: es wäre ihm zuzutrauen gewesen. Unser Herr Matzerath hat den Blechschadenunfall hinter sich und greift nun, wie er bei Helmstedt mit ziemlicher Verspätung die Deutsche Demokratische Republik samt überbetonter Grenze vor sich sieht, zum letzten Mal nach dem Autotelefon, um mir, auch im Namen seines Chauffeurs, beizupflichten. »Mir gefällt dieser Gedanke!« ruft er. »Warum nicht. Malskats Fähigkeiten sind oft genug unterschätzt worden. Sicher suchte er Gelegenheit und sei es nur im Detail -, seine Wachträume zu entfalten. Ist nicht im Lübecker Obergaden der Marienkirche Prüfen Sie das! der Prophet Jonas im Maul des Fisches zu sehen, als seien Wal und Jonas eine Gestalt? Und steckt nicht, wie biblisch Jonas im Walfisch, die Ratte im Menschen?!«
Offenbar ist bei der Grenzkontrolle einige Wartezeit einbegriffen. Der Chauffeur schlägt vor, in Abänderung des Reiseprogramms, in Westberlin zu übernachten. Unser Herr Matzerath besteht jedoch auf Hotelbetten in Poznan und gerät dann ins Plaudern, indem er den Antrittsbesuch bei seiner Großmutter vorwegnimmt und sich weitläufig erinnert: »Von Posen aus werden wir rechtzeitig eintreffen. Ob noch immer Sonnenblumen am Zaun stehen? Und ob sie noch immer vier Röcke übereinander? Übrigens spielte in meiner Jugend eine im Stadtmuseum zur Schau gestellte Galionsfigur ihre mysteriöse von mehreren Unfällen begleitete Rolle. Hölzern
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