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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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selbst die südlichsten Zufluchten wurden, wenn auch verzögen, eingeholt endlich. Überall fanden strahlende Partikel hin: kein Tal zu eng, kein Inselchen vergessen. Hier trat der Tod sofort ein, dort dauerte das Leiden. Kein Leben regte sich, nein, sagen wir es nach humaner Wertung: bald regte sich kein höheres Leben mehr. Es war, um ein Wörtchen zu benutzen, das der Mensch gelegentlich scherzhaft für das Wort radikal setzte, weil es uns Ratten zur Wurzel hat, ratzekahl alles weg!
Weil mein Protest, meine Fragen ausblieben, ersparte sie mir Einzelheiten und sagte: Wir wollen euer Ende nicht bis ins letzte Schlupfloch belegen, vielmehr gilt es, in dieser Gegend zu bleiben, so gerne du dich reisend erlebt hast: sogar in Indien, China und Alaska bist du gewesen. Doch wohin immer Neugierde dich gelockt hat, zu Hause warst du nicht in Kalkutta, sondern zwischen dem Weichselmündungsgebiet und dem baltischen Höhenrücken. Jedenfalls wandelte sich deine Kaschubei zur baumlosen Endmoräne zurück, mit Wasserlöchern zwischen Geröll, schlammverkrustet, schrundig, geborsten, einzig uns Ratten noch wirtlich, wenngleich auch wir mehr als zwei Drittel unserer Population verloren hatten. Gewiß war es richtig gewesen, sich rechtzeitig einzugraben, doch haben dem überlebenden Rest unserer Völker nur die zuvor ungewohnte Vorratswirtschaft und hartes Konditionstraining helfen können...
Jetzt wollte sie mir weismachen, es hätten sich gegen Schluß der Humanzeit vorbestimmte Rattensippen in Kernkraftwerken und Atommüllzwischenlagern eingenistet, um sich abzuhärten und immun zu machen. Lächerlich! rief ich, typisches Rattenlatein!
Sie berichtete weiter, betont gelassen: Jedenfalls sahen wir uns, sobald die Fluchtsysteme verlassen wurden, verdammt allein. Denn mit den Menschen waren alle Haustiere verreckt. Kein Hund, keine Katze hielt durch. Mit den Wäldern war auch das Wild hin: kein Igel, keine Wildsau konnte das überleben. Erst viel später bemerkten wir erleichtert, doch auch irritiert, daß wir nicht ganz so allein waren, wie es auf ersten Blick ausgesehen hatte.
Sie konnte nicht aufhören, sich zu verwundern: Erstaunlich, nicht wahr, daß neben Kakerlaken und Schmeißfliegen einige Sperlinge und Tauben davongekommen waren? Und in den kaschubischen Wasserlöchern überdauerte Froschund Fischlaich, so daß wir mit wiederbelebten Gewässern rechnen konnten. Bald kamen Molche und Eidechsen vor. Als später, viel später mit Moosen, Flechten und Schachtelhalmen, mit Schilf und niedrigem Gebüsch neues Leben um Wasserlöcher entstand, waren auch wieder Mücken da, Libellen sogar und diese ewigen Langweiler: Landund Wasserschnecken. Ach ja, eklige Würmer, nicht eigentlich Regenwürmer wir nannten sie Rußwürmer gab es, doch viel war das nicht. Etwas fehlte. Ach Freund, klagte die Rättin, wie habt ihr uns einsam werden lassen.
Da ich mich totstellte und zu keinem Einwurf lustig sein wollte, setzte sie ihren Bericht abermals bei Ultimo an: Als wir wenige Tage nach eurem Endspiel die Stille in unseren Gangsystemen und Fluchtkammern als allzu bedrückend empfanden, schickten wir einige Jungratten nach oben. Gleichzeitig mußten alle während des Großen Knalls geborenen und sogleich verendeten Würfe ausgeräumt werden. Keine der Jungratten kam zurück. Danach entsprechende Ausfälle, mehrmals. Schließlich schickten wir, um die nachwachsende Population zu schonen, Altratten rauf, von denen einige Nachricht brachten, worauf sie verkrampften und wegstarben: innere Blutungen, Tumore. Glaub uns, Freund, die Nachrichten von der Oberfläche hörten sich wie menschliche Übertreibungen an. Nichts sei da oben. Wörter wie Niemandsland oder Flunkerte Erresch, die oft berufene Verbrannte Erde, fielen den Altratten zuletzt ein. Und als wir in Großsippen, doch immer auf Reserven bedacht, die Zeit der Zuflucht aufhoben, aufheben mußten, weil die innere Ordnung, besonders in den Großkammern zu zerfallen begann, wollten wir sogleich zurück und lieber Streß unten als oben Leere ertragen.
Die Rättin schwieg, als sollte ihr Schweigen die Leere, das Nichts deutlich machen.
Also stellte ich mich nicht länger tot: Und das habt ihr ausgehalten: erst unten eingegraben, dann oben ausgesetzt sein? Was blieb uns übrig, sagte sie. Da uns alle Ausfluchten versperrt waren, mußten wir ein Verhalten annehmen, das uns seit Rattengedenken eingeübt ist. Und dennoch haben nur wenige diese frühe Periode des neuen Zeitalters durchstehen können.

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