Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
Vom Netzwerk:
der Steuermännin und sich eingegossen hat, legt »Die Neue Ilsebill« ab. Es ist früher Nachmittag. Zeitweilig regnet es nicht. Keine der Frauen will sprechen. Das Steinewerfen gibt nichts mehr her. Hat der Landgang enttäuscht? Es sieht so aus, als seien die Frauen an ein Schweigegelübde gebunden, das, wenn nichts Unvorhergesehenes geschieht, erst über der versunkenen Stadt gelöst werden kann.
Doch wie sie gegen Abend bei nördlicher Helle die Hoburgbank, ein Flachwasser südlich Gotland, überlaufen und dabei in ein weites, die Fahrt minderndes Quallenfeld geraten, das, selbst wenn sie nach Steuerbord ausweichen, dem Schiff zu folgen scheint, will den schweigenden Frauen, aber auch mir, der ich alle fünf stumm halte, vorkommen, es liege über dem Wasser ein aufund abschwellender Ton, es finde ein wortloses Singen statt, das keinen Anfang, kein Ende kennt, es seien Millionen Ohrenquallen wer sonst? im Flachwasser bei Stimme plötzlich oder durch höheren Willen wundersam auf Gesang gestimmt.
Schon schleppt die Meereskundlerin den Meßhai an Deck. Mit Hilfe der Steuermännin wirft sie das Spezialnetz aus, holt bei geminderter Fahrt denn auch Damroka will diesen Zwischenhol das Netz wieder ein, kippt den Fang auf den Tisch im Mittelschiff, breitet zwölf und mehr mittelgroße Quallen auf der Arbeitsplatte aus und hört, was auch Steuermännin und Maschinistin hören, daß die Aurelien ein Geräusch, nein, einen Ton von sich geben, der, tiefer gestimmt als das Singen über der See, dennoch chorisch zum Gesang schwillt und sogar überm Motorengeräusch auf Deck gehört werden kann, denn die Alte verläßt die Spaghetti in der Kombüse, bricht das von mir verhängte Schweigegebot und ruft: »Mann, die singen ja wirklich!«; worauf alle fünf Frauen, zuletzt die Meereskundlerin, glauben, was sie in hoher und tiefer Lage hören.
Aurelia aurita, die Schöngezeichnete, deren lappige Mitte von einem blauvioletten Kleeblatt vierblättrig stigmatisiert ist, kann singen. Sie, die durchsichtig astralen, mit der See atmenden, in Schwärmen wandernden, als Plage verfluchten Medusen, sie, die sonst, kaum auf den Tisch gebreitet, ohne Laut schrumpfen und Glanz verlieren, sobald Formalin ihr Schrumpfen verzögern soll, singen trotz schlaffer Velarlappen: ein schwellender, in Höhen zitternder, in tiefer Lage orgelnde Ton macht den Lagerraum des einstigen Frachtewers eng. Nie zuvor, es sei denn im biblischen Feuerofen, wurde so dringlich gesungen.
Wer das glauben mag, will dennoch Beweise. Damroka läßt einen zweiten, den dritten Hol mit dem Meßhai zu. Nachdem sie das Ruder der Steuermännin gegeben hat, nimmt sie, auf Vorschlag der Meereskundlerin, mit einem Tonbandgerät, das bisher für Bachkantaten und Orgelpräludien gut war, den Medusengesang auf, als könne einzig Technik das Unerhörte bestätigen oder hoffen die Frauen, befürchten sie insgeheim durch keinen Pieps auf dem Tonträger widerlegen.
Also lassen sie das Band ablaufen. Und wie es, technisch einwandfrei, den Medusengesang reproduziert, trägt die Meereskundlerin das Gerät an Deck, worauf sich die Tonbandaufzeichnung mit dem höhergestimmten Singsang, der über der See liegt, wunderbar mischt, als seien Technik und Natur ausnahmsweise bereit, gemeinsame Sache zu machen. Erst spät, mit dem Dämmern, verlieren sich die Quallenfelder, schwindet der Originalton. Doch wollen die Frauen noch lange nicht in die Hängematten. Immer wieder hören sie dem Tonband ab, was im Arbeitsraum, dann mit dem Mikrophon an langer Angel dicht überm Wasser aufgenommen wurde. Beim Kontrollhören sprechen die Frauen wenig. Die Meereskundlerin sagt: »Das glaubt mir im Institut niemand, was wir da draufhaben live.«
Trotzdem wird die Vermutung der Alten, es handle sich um ein unerklärliches Phänomen, belächelt. Spekulationen schießen ins Kraut, etwa die Frage der Maschinistin, ob von der Höhe des Medusengesanges auf die Dichte der Quallenschwärme geschlossen werden könne. »Damit wäre«, sagt sie, »eine Methode ganz ohne Meßhai und ähnlichen Klimbim gefunden.«
Damroka spricht von der Mehrchörigkeit der singenden Quallenfelder und nennt Chorwerke von Gesualdo. Die Meereskundlerin weiß Daten: »Der Schwarm über der Hoburgbank war zwar ungewöhnlich groß, aber nicht so dicht wie die Schwärme in der Kieler Förde. Dort werden zwischen März und Oktober bis zu sieben Milliarden Individuen gemessen, die man, vom durchschnittlichen Medusengewicht ausgehend, auf

Weitere Kostenlose Bücher