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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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beizubringen wären.
Nicht alle Vorschläge unseres Herrn Matzerath leuchten ein: Er will und sei es, um mich zu reizen -, daß das Grimmsche Wörterbuch Band für Band von Riesenschnekken herbeigebracht wird, bis alle zweiunddreißig Bände der Großmutter vorliegen; außerdem ordnete er vor seiner Abreise nach Polen an, es solle Rotkäppchen immer erst dann den Reißverschluß öffnen und in den Wolfsbauch kriechen, wenn sich die Großmutter weigere, das dumme Ding unter ihre Röcke zu lassen. Ich will diesen Eingriff in mein Drehbuch nicht kommentieren, wenngleich ich unseren Herrn Matzerath nicht begreife: Rotkäppchens Großmutter ist keine Anna Koljaiczek; doch stimmen wir überein, wenn Oskar den Kußzwang des Prinzen besonders herausgearbeitet sehen will.
Das Absurde des Küssens, der Küssende als Wiederholungstäter, das Wachküssen als mechanischer Vorgang, diese stupide Mißachtung der Hygiene, all das verlangt nach einem Schauspieler, der begabt ist, gleichbleibend teilnahmslos alles zu küssen, was Dornröschen ähnlich sieht; denn im Verlauf der Handlung soll dem Prinzen die echte Kußvorlage entzogen werden, worauf er nicht nur an Rapunzel und Schneewittchen Küsse verteilen, sondern sich auch an einer Puppe vergreifen wird, die der sechste und siebte Zwerg aus Stroh, Moos und Lumpen gebastelt haben.
Nie würde ich so weitgehen wie unser Herr Matzerath, der das Küssen eine den Tod vorschmeckende Krankheit nennt: doch soll die Filmhandlung zeigen, welche Gefahr die Küsserei des Prinzen heraufbeschwört. Leer und hübsch, wie er ist, wird er ohne Dornröschen von Sinnen sein.
Und Jorinde und Joringel? Wie läßt sich Trauer darstellen, die auf gleichbleibender Mimik besteht? Und Rapunzel? Ihr fatal langes Haar? Dieser Überfluß, keinem Kamm gewachsen?
Nein, es kommt mir keine Perücke ins Drehbuch, die von anarchischen Zwergen herabgerissen und als Haarwisch zum Spielball werden könnte, bis von Rapunzel nur noch Gespött bliebe. Geträumt langes, aus rotem Gold gesponnenes und dennoch naturwüchsiges Haar soll es sein, das aus dem Fenster im Obergeschoß des Knusperhäuschens weht, Wunschhaar, Traumhaar, die einzige Fahne, der ich zu folgen bereit bin. Deshalb nenne ich meine Damroka schöngelockt. Mit ihrem Haar fällt mir mehr zu, als die Rättin da ist sie wieder! wegreden kann. Und weil ich wortwörtlich an Damrokas Haar hänge, bekommt Rapunzel Nein, Herr Matzerath! keine Perücke verpaßt.
    Nachdem die fünf Frauen ihr Schiff im Hafen von Visby auf Gotland festgemacht haben, sind sie zwar angekommen, doch weiter als je zuvor von Vineta entfernt. Gut dreihundertfünfzig Meilen weit lief ihr Schiff in Richtung Osten. Nach der Insel Møn sahen sie die Insel Bornholm schwinden. Sie waren dem schwedischen Festland auf Höhe von Ystad, dann, als sie in der Hanöbucht stritten, auf Sichtweite nah gewesen: ein flacher Küstenstreifen, den Industrieanlagen markieren. Endlich verging ihnen backbord die langgestreckte Insel Öland. Nach zweiundsechzig Stunden Fahrt hatten sie, wie ich errechnet habe, über siebenhundert Liter Diesel verbraucht und liefen mit annähernd leerem Reservetank in den Hafen von Visby ein. Alle Vorräte gingen zur Neige. Trinkwasser wurde knapp. Von Wolle keine Rede mehr. Nichts mehr hätte erzählt oder noch einmal erzählt werden können. Der Streit in der Hanöbucht, als letzte Quallen geholt wurden, hatte viele Wörter verbraucht. Also riefen sie mit halben Sätzen nur, was das Schiff von ihnen verlangte.
Weil zudem viel Zeit vergangen ist, bleiben für den Landgang nur wenige Stunden. Damroka geht zum Hafenmeister, die gestempelten DDR-Papiere holen. Die Maschinistin und die Steuermännin lassen »Die Neue Ilsebill« volltanken, dazu alle Reservekanister. Die Alte und die Meereskundlerin räumen in einem Konsumladen, was die Küche braucht, aus Tiefkühltruhen. Da schwaches Bier nur und kein Aquavit in Regalen zu greifen ist, verflucht die Alte das Königreich Schweden und dessen Moral. Endlich treibt sie zwischen Lagerschuppen mit Hilfe eines betrunkenen Finnen doch noch zwei Literflaschen Fusel zum Überpreis auf.
Jetzt erst sind die Frauen für Landgang frei. Schnell Klamotten gewechselt und Wetterhäute zu Bündeln gerollt. Eigentlich will Damroka an Bord bleiben, doch weil ihr die Alte und die Meereskundlerin zureden »Ohne Dich macht das überhaupt keinen Spaß« und weil die Maschinistin und die Steuermännin beteuern: »Dann bleiben auch wir an Bord«, läßt sie

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