Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
war. Im Augenblick sind zwei der Räume Büros, eins für die Koop, eins für ein kleines Lyrik- Magazin mit dem Titel Keime der Erde, und das große Zimmer nach vorne heraus ist für Versammlungen und Kurse, wie ihre Yoga- Kurse, gedacht. Charis nimmt immer nur zehn Leute auf einmal auf; mehr wären eine zu große Belastung für ihre Kreise, würden ihre Konzentration überfordern. Die Teilnehmerinnen bringen ihre eigenen Handtücher und Matten mit, und normalerweise haben sie ihre Trikots schon unter ihren Kleidern an, damit sie sich nicht umziehen müssen. Charis kommt immer vor den anderen, zieht sich im Badezimmer um und breitet ihre Matte aus, die sie in einem Schrank im Büro der Koop aufbewahrt. Wenn man nicht aufpaßt, reißt man sich auf dem alten Hartholzboden Splitter ein.
    Ihre erste Aufgabe besteht darin, ihre Umgebung auszublenden. Die verblaßte Tapete mit dem malvenfarbenen Rankenmuster muß in den Hintergrund treten, die hellen, rechteckigen Flecke auf dieser Tapete, die von früheren Bildern stammen, der schale Geruch nach benutztem Haus und nach dem dreckigen, urinfleckigen Läufer auf der Treppe, und nach den Essensresten in den Papierkörben in den Büros, die nie geleert werden. Die Verkehrsgeräusche von draußen müssen verschwinden, die Stimmen von der Straße und von unten – sie wischt sie mit fester Hand aus ihrem Kopf, wie von einer Wandtafel. Sie legt sich auf den Rücken, die Knie angewinkelt, die Arme locker hinter dem Kopf, und konzentriert sich auf ihre Atmung, bereitet sich vor, bringt sich in ihren Mittelpunkt. Der Atem muß hinein und hinuntergehen, ganz hinein und hinunter in den Solarplexus. Der verstohlene, hin und her huschende, triviale Geist muß abgeschaltet werden. Das Ich muß transzendiert werden. Das Selbst muß von seinen Fesseln befreit werden. Es muß treiben.
    Der erste Kurs verläuft wie immer. Charis weiß, daß sie eine gute Stimme hat, leise und beruhigend, und ein gutes Tempo. »Ehrt das Rückgrat«, murmelt sie. »Grüßt die Sonne.« Die Sonne, die sie meint, ist im Inneren des Körpers. Sie benutzt ihre Stimme und ihre Hände, eine Berührung hier, eine Berührung da, hilft den Körpern, die richtige Position einzunehmen. Sie spricht flüsternd zu den einzelnen Frauen, um einerseits nicht die Aufmerksamkeit der anderen auf sie zu lenken und sie dadurch in Verlegenheit zu bringen, und andererseits die Konzentration der anderen nicht zu stören. Das Zimmer füllt sich mit Atemgeräuschen, wie kleine Wellen an einem Ufer, und mit dem Geruch angespannter Muskeln. Charis fühlt, wie die Energie aus ihr herausfließt, durch ihre Finger, in die anderen Körper hinein. Sie bewegt sich kaum – niemand würde das, was sie tut, als Anstrengung bezeichnen aber am Ende der anderthalb Stunden ist sie erschöpft.
    Sie hat eine Stunde Zeit, um neue Kräfte zu tanken. Sie trinkt in der Saftbar im Erdgeschoß einen Orangen-und-Karotten-Saft, um ihren Körper mit lebenden Enzymen zu versorgen, und hilft den anderen, die Preise für die getrockneten Bohnen auszurechnen, und dann ist es Zeit für ihren zweiten Kurs. Charis achtet nie sonderlich darauf, wer in welchem Kurs ist; sie zählt bis zehn und merkt sich die Farben der Trikots, und sobald die Stunde angefangen hat, registriert sie die Eigenheiten der einzelnen Körper und vor allem der Wirbelsäulen, und ihre Verkrampfungen, aber die Gesichter interessieren sie nicht besonders, denn das Gesicht ist der Individualismus, und Charis versucht ja gerade, diesen Frauen dabei zu helfen, eben diesen Individualismus zu transzendieren. Außerdem finden die ersten Übungen im Liegen statt, mit geschlossenen Augen. Und so kommt es, daß der Kurs schon zu einem Viertel vorbei ist, bevor ihr auffällt, daß eine neue Teilnehmerin dabei ist, eine Frau, die sie noch nie gesehen hat: eine dunkelhaarige Frau in einem indigofarbenen Trikot und einer pflaumenblauen Strumpfhose, die – seltsam für einen so trüben Tag – eine Sonnenbrille trägt.
    Die Frau ist groß und sehr dünn, so dünn, daß Charis ihren Brustkorb durch das Trikot hindurch erkennen kann, jede einzelne Rippe zeichnet sich reliefartig ab, wie gemeißelt, mit einer dunklen Linie darunter. Die Knie und die Ellbogen der Frau sind wie Knoten in einem Seil, und wenn sie von einer Stellung in die nächste wechselt, sind ihre Bewegungen nicht fließend, sondern fast geometrisch, Käfige aus Kleiderbügeln. Ihre Haut ist so weiß wie das Weiß von Pilzen, und eine

Weitere Kostenlose Bücher