Die Räuberbraut
seine sexuelle Unerfahrenheit.
Was sie meint, ist: unberührt. Was sie meint, ist seine unangekratzte Oberfläche. Trotz des Kummers, den er durchgemacht hat und immer noch durchmacht, hat er etwas Glänzendes, etwas Glänzendes und Neues. Oder vielleicht etwas Undurchdringliches. Sie selbst ist so durchdringlich; scharfe Kanten bohren sich in sie hinein, sie bekommt schnell blaue Flecken, ihre innere Haut ist aufgequollen und weich, wie Marshmellows. Sie ist von oben bis unten mit winzigen Fühlern bedeckt, wie Ameisen sie haben: sie bewegen sich, sie prüfen die Luft, sie berühren und zucken zurück, sie warnen sie. Billy hat keine derartigen Fühler. Er braucht sie nicht. Was immer mit ihm zusammenstößt, prallt sofort wieder von ihm ab – entweder tut er es als belanglos ab, oder aber es macht ihn wütend, statt ihn zu verletzen. Es ist eine Art Härte, die völlig für sich existiert, losgelöst von jeder Traurigkeit oder Melancholie oder Schuld, die er vielleicht zur selben Zeit empfindet.
Vielleicht ist es so: seine Traurigkeit und seine Melancholie und seine Schuld gehören ihm, und sind deshalb wichtig für ihn, aber sie sind in seinem Inneren verschlossen. Die Gefühle anderer Leute können nicht rein. Während Charis wie eine Fliegengittertür ist, und dazu noch eine offene, und alles weht einfach mitten durch sie hindurch.
»Ich bin so was?« grinst Billy. Charis lächelt zurück.
»So... na ja, du weißt schon«, sagt sie.
Charis hat Billy nicht kennengelernt, nicht im eigentlichen Sinne. Sie hat ihn zugeteilt bekommen, in der Lebensmittel-Koop, wo sie eine Menge Leute kannte, wenn auch nicht gut. Eine Frau namens Bernice hatte sie in diese Geschichte hineingezogen. Bernice gehörte zur Friedensbewegung und zu irgendeiner Kirche, und sie verteilten die Kriegsdienstflüchtlinge, die sie gesammelt hatten, steckten sie hierhin und dahin in die Häuser von Leuten, wie die englischen Kinder, die im Zweiten Weltkrieg über den Atlantik verschifft wurden. Charis war an dem Tag zufällig in der Koop, und Bernice verloste die Kriegsdienstflüchtlinge mehr oder weniger, und zum Schluß blieb Billy übrig; Billy und ein anderer Junge (Bernice nannte sie »Jungs«), und so sagte Charis, sie würde sie für ein paar Nächte bei sich unterbringen, in ihrem untergemieteten Zimmer in einem der alten Lagerhäuser in der Queen Street, einen auf dem Sofa mit den kaputten Sprungfedern, das aus einem Goodwill-Laden stammte, und einen auf dem Boden, bis sie was anderes fanden, aber Bernice müßte ihnen Schlafsäcke zur Verfügung stellen, weil Charis kein zusätzliches Bettzeug hatte.
Charis tat dies nicht aus politischen Gründen: sie glaubte nicht an Politik, glaubte nicht daran, sich in Dinge einzumischen, die so negative Gefühle hervorriefen. Sie mißbilligte Kriege, und sie mißbilligte es, nur daran zu denken. Sie verstand den Vietnam-Krieg nicht und wollte ihn nicht verstehen – obwohl einiges doch in ihren Kopf gesickert war, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, er lag in den Luftmolekülen –, und vor allem sah sie ihn sich nicht im Fernsehen an. Sie hatte nicht einmal einen Fernseher, und sie las auch keine Zeitungen, weil sie sie zu sehr aufwühlten und es sowieso nichts gab, was sie gegen all das Elend tun konnte. Die Tatsache, daß sie Billy bei sich aufnahm, hatte also nichts mit all diesen Dingen zu tun. Sie tat es aus Gastfreundschaft. Sie fühlte sich verpflichtet, Fremden gegenüber freundlich zu sein, vor allem Fremden gegenüber, denen das Schicksal übel mitgespielt hatte. Außerdem wäre es zu seltsam gewesen, die einzige in der ganzen Koop zu sein, die sich weigerte, jemanden aufzunehmen.
So also fing es an. Nach ein paar Tagen zog der andere Junge aus, und Billy blieb; und nach ein paar weiteren Tagen wurde Charis klar, daß er von ihr erwartete, mit ihm ins Bett zu gehen. Er drängte sie nicht; in jener Anfangszeit war er schüchtern und zurückhaltend, orientierungslos, sich seiner selbst nicht sicher. Er hatte gedacht, daß es auf dieser Seite der Grenze mehr oder weniger genauso sein würde wie auf der anderen Seite, nur sicherer, und als sich herausstellte, daß weder das eine noch das andere der Fall war, war er verwirrt und durcheinander. Er erkannte, daß er etwas Monumentales getan hatte, etwas, das er nicht wieder rückgängig machen konnte; daß er im Exil gelandet war, vielleicht für immer. Er hatte seine Familie in Schwierigkeiten gebracht – sie hatten seine Entscheidung,
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