Die Räuberbraut
aus dem Zugfenster, ihre weißen Handschuhe flatterten wie Wimpel. Es war das letzte Mal, daß Karen ihre richtige Mutter sah, die, die noch lächeln und winken konnte, aber das wußte sie in diesem Augenblick nicht.
Dann fuhren Karen und ihre Großmutter zurück zur Farm und aßen ihr Frühstück, das aus Haferbrei mit braunem Zucker und dicker, frischer Sahne bestand. Jetzt, wo Karens Mutter fort war, war ihre Großmutter nicht mehr so gesprächig.
Karen sah ihre Großmutter über den Tisch hinweg an. Sie sah sie ganz genau an. Die Großmutter war älter, als Karen gestern gedacht hatte; ihr Hals war sehniger, ihre Augenlider faltiger. Um ihren Kopf herum schimmerte ein schwaches, hellblaues Licht. Karen hatte schon gemerkt, daß ihre Zähne falsch waren.
34
Nach dem Frühstück sagt Karens Großmutter zu ihr: »Bist du krank?«
»Nein«, sagt Karen. Ihre Beine tun immer noch weh, aber das ist keine Krankheit, es ist nichts, weil ihre Mutter sagt, daß es nichts ist.
Sie will nicht ins Bett gesteckt werden, sie will nach draußen gehen. Sie will die Hühner sehen.
Ihre Großmutter sieht sie scharf an, sagt aber nur: »Willst du nicht deine Shorts anziehen? Wird ein heißer Tag.« Aber Karen sagt noch einmal nein, und sie gehen, um die Eier zu holen. Die Hunde und das Schwein dürfen nicht mitkommen, weil die Hunde versuchen würden, die Hühner zusammenzutreiben, und weil das Schwein Eier liebt. Die drei liegen auf dem Küchenboden. Die Hunde schlagen langsam mit dem Schwanz, das Schwein sieht nachdenklich aus. Karens Großmutter nimmt einen Korb mit einem Geschirrhandtuch drin, um die Eier hineinzutun.
Der Himmel ist strahlendblau, wie eine Faust auf einem Auge, diese Pfütze aus heißer Farbe; die dünnen, schrillen Stimmen der Zikaden bohren sich in Karens Kopf wie Drähte. Die Haarspitzen ihrer Großmutter fangen das Sonnenlicht ein und brennen wie feurige Wolle. Sie gehen über einen Pfad, zwischen hohen Kräutern hindurch, Disteln und wilden Möhren, die intensiver und grüner riechen als alles, was Karen je zuvor gerochen hat, und sich mit den süßlichen, stechenden Scheunengerüchen mischen, so daß Karen nicht weiß, ob es gut oder schlecht riecht, oder einfach nur so überwältigend und intensiv, daß sie fast keine Luft mehr bekommt.
Der Hühnerstall steht an dem Zaun aus feinmaschigem Draht und Latten, der den Garten umgibt; in diesem Garten gibt es Kartoffeln, und Kopfsalat in einer krausen Reihe, und Gerüste aus drei zusammengebundenen Stangen, an denen Bohnen emporklettern, deren rote Blüten von Bienen umsummt werden. »Kartoffeln, Kopfsalat, Bohnen«, sagt Karens Großmutter zu Karen, vielleicht aber auch zu sich selbst. »Hühner«, sagt sie, als sie den Hühnerstall erreichen.
Es gibt zwei Sorten Hühner: weiße mit roten Kehllappen, und rötlich-braune. Sie scharren und glucken und sehen Karen mit ihren gelben Eidechsenaugen an, erst mit dem einen, dann mit dem anderen; Funken aus vielfarbigem Licht spielen auf ihren Federn wie Tautropfen. Karen sieht die Hühner an, bis ihre Großmutter ihren Arm nimmt. »Hier draußen gibt’s keine Eier«, sagt sie.
Innen ist der Hühnerstall stickig und dunkel. Karens Großmutter tastet in den strohgefüllten Boxen herum und greift unter die zwei Hühner, die noch in ihren Boxen sind, und legt die Eier in ihren Korb. Ein Ei gibt sie Karen zum Tragen, ganz für sich allein. Ein sanftes Glühen dringt aus dem Inneren des Eis. Es ist ein bißchen feucht, und mit Hühnerkacke und Stroh verklebt. Außerdem ist es warm. Karen spürt, wie die Rückseite ihrer Beine pocht, und wie die Hitze des Eis in ihren Kopf steigt. Das Ei ist weich, wie ein schlagendes Herz mit einer Gummihülle darum. Es wird größer, es schwillt an, und als sie am Garten vorbei zurückgehen, durch das Gleißen der Sonne und die Vibrationen der Bienen, wird es so groß und heiß, daß Karen es fallenlassen muß.
Später dann lag sie im Bett, auf dem Bauch. Ihre Großmutter wusch ihre Beine ab. »Ich war nicht die richtige Mutter für sie«, sagte die Großmutter. »Und sie nicht die richtige Tochter für mich. Und jetzt sieh dir das an. Aber es ist nicht zu ändern.« Sie legte ihre großen, knotigen Hände auf Karens Beine, und zuerst tat es noch mehr weh, und dann wurde Karen immer wärmer und wärmer, und dann kühl, und dann schlief sie ein.
Als sie wach wurde, war sie draußen. Es war dunkel, aber der Halbmond schien; in seinem Licht konnte sie die Baumstämme sehen,
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