Die Räuberbraut
Zeit hatte sie immer etwas zu tun, konnte sie helfen. Sie jätete Unkraut im Garten, sie sammelte die Eier ein, zuerst zusammen mit ihrer Großmutter, dann ganz allein. Sie trocknete das Geschirr ab, sie fütterte die Hunde. Aber wenn ihre Großmutter schlief, ging sie nicht einmal vor die Tür, weil sie sich nicht zu weit entfernen wollte. Sie blieb in der Küche. Manchmal sah sie sich die alten Zeitungen an. Sie suchte in der Wochenendausgabe nach der Seite mit den Comics und sah sie sich an: wenn man sie ganz dicht vor die Augen hielt, lösten die Gesichter sich in winzige, bunte Pünktchen auf. Oder sie saß am Küchentisch und malte mit einem Bleistiftstummel auf irgendwelche Papierschnipsel. Zuerst versuchte sie, Briefe an ihre Mutter zu schreiben. Sie konnte schreiben, sie hatte es in der Schule gelernt. Liebe Mutter. Wie geht es Dir? Alles Liebe, Karen. Sie ging zum Briefkasten an der Straße und legte den Brief hinein und stellte das rote Metallfähnchen auf. Aber sie bekam nie eine Antwort.
Also saß sie statt dessen da und malte mit dem Bleistiftstummel; oder sie malte nicht, sondern lauschte. Ihre Großmutter schnarchte, und murmelte manchmal im Schlaf vor sich hin. Fliegen summten, Kühe muhten in der Ferne, Gänse schnatterten, ein Auto fuhr vorbei, ein gutes Stück weg, auf der Schotterstraße, die am Land ihrer Großmutter vorbeiführte. Andere Geräusche. Der Wasserhahn tropfte ins Becken in der Spülküche. Schritte im vorderen Wohnzimmer, ein Knarren, was war das? Der Schaukelstuhl, das harte Sofa? Sie saß ganz still, fröstelnd trotz der Nachmittagshitze, die kleinen Härchen auf ihren Armen gesträubt, und wartete, ob die Schritte näher kommen würden.
Sonntags zog ihre Großmutter ein Kleid an, ging aber nicht zur Kirche – anders als Tante Vi, die sonntags immer zweimal ging. Statt dessen holte sie die riesige Familienbibel aus dem vorderen Wohnzimmer und stellte sie aufrecht auf den Küchentisch. Dann machte sie die Augen zu und stocherte mit einer Nadel zwischen den Seiten herum und schlug die Bibel an der Stelle auf, die die Nadel ausgewählt hatte. »Jetzt du«, sagte sie zu Karen, und Karen nahm die Nadel und schloß die Augen und hielt die Hand über die Seite, bis sie spürte, wie sie nach unten gezogen wurde. Dann las ihre Großmutter die Stelle, in der die Nadel steckengeblieben war.
»›Welcher sich unter euch dünkt weise zu sein, der werde ein Narr in dieser Welt, daß er möge weise sein. Denn dieser Welt Weisheit ist Torheit bei Gott.‹ Hm, ich weiß, wer damit gemeint sein muß.« Und sie nickte mit dem Kopf.
Aber manchmal war sie auch unsicher. »Und die Hunde sollen Isebel fressen auf dem Acker zu Jesreel«, las sie. »Hm, keine Ahnung, wer das sein könnte. Muß zu weit in der Zukunft liegen.« Sie las immer nur einen Vers pro Sonntag. Danach schlug sie die Bibel zu und trug sie zurück ins vordere Wohnzimmer und zog ihren Overall an und ging wieder an ihre Arbeit.
Karen kniet im Garten. Sie pflückt Bohnen in einen großen Korb, gelbe Bohnen. Sie pflückt langsam, eine Bohne nach der anderen. Ihre Großmutter kann mit beiden Händen gleichzeitig pflücken und braucht nicht einmal hinzusehen, genauso, wie sie strickt, aber Karen muß hinsehen, muß die Bohne erst finden und sie dann pflücken. Die Sonne ist weißglühend; Karen trägt ihre Shorts und eine ärmellose Bluse, und den Strohhut, den ihre Großmutter ihr immer aufsetzt, damit sie keinen Sonnenstich bekommt. So in der Hocke ist sie fast nicht zu sehen, weil die Bohnenpflanzen so hoch sind. Die Sonnenblumen beobachten sie mit ihren riesigen, braunen Augen, ihre gelben Blütenblätter sind wie Speere aus trockenem Feuer.
Die Luft schimmert wie Zellophan, wie eine durchsichtige Plane aus Zellophan, die über die flachen Felder geschüttelt wurde; sie knistert vor Grashüpfer-Statik. Gutes Heuwetter. Zwei Felder weiter ist das Tuckern von Ron Sloanes Traktor zu hören, das Klacken und Poltern seiner Mähmaschine. Dann hört es auf. Karen erreicht das Ende der Bohnenreihe. Sie reißt sich eine Möhre aus, wischt die gröbste Erde mit den Fingern ab, reibt die Möhre dann an ihrem Bein sauber und beißt hinein. Sie weiß, daß sie sie vorher waschen sollte, aber sie mag den erdigen Geschmack.
Ein Motorengeräusch. Ein blauer Lastwagen kommt die Auffahrt herauf. Er fährt schnell, schlingert auf dem Schotter von der einen auf die andere Seite. Karen kennt den Lastwagen: er gehört Ron Sloane. Wieso ist er
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