Die Räuberbraut
Augenbrauen, und ihre Zähne wurden sichtbar, ebenfalls groß und unnatürlich gleichmäßig und so weiß, daß sie fast leuchteten. Sie lächelte. »Keine Angst, ich werd dich nicht fressen«, sagte sie zu Karen. »Jedenfalls nicht heute. Du bist mir zu dünn – ich werd dich erst mal mästen müssen.«
»O Mutter«, sagte Karens eigene Mutter vorwurfsvoll, mit ihrer süßlichen Zweitkläßlerstimme. »Sie weiß nicht, daß du nur einen Witz machst.«
»Dann sollte sie sich beeilen, es rauszufinden«, sagte die Großmutter. »Außerdem ist es zum Teil wahr. Sie ist viel zu dünn. Wenn ich ein Kalb hätte, das so aussieht wie sie, würd ich sagen, daß es am Verhungern ist.«
Ein schwarzweißer Collie lag auf einer dreckigen Karodecke auf dem Sitz des Lieferwagens. »Nach hinten, Glennie«, sagte die Großmutter, und der Hund spitzte die Ohren, wedelte mit dem Schwanz, sprang heraus und kletterte mit Hilfe der Stoßstange auf die Ladefläche. »Also rein mit dir«, sagte die Großmutter, hob Karen hoch wie einen Sack und hievte sie auf den Sitz. »Rutsch rüber, damit deine Mutter Platz hat.« Karen rutschte über den Sitz; es tat weh, wegen ihrer Beine. Karens Mutter warf einen Blick auf die Hundehaare und zögerte.
»Steig ein, Gloria«, sagte die Großmutter trocken. »Es ist genauso dreckig wie immer.«
Sie fuhr schnell, unmusikalisch vor sich hinpfeifend, einen Ellbogen verwegen aus dem Fenster gehängt. Die Fenster waren beide offen, und der Schotterstaub wehte herein, aber trotzdem stank das Innere des Wagens nach altem Hund. Karens Mutter nahm ihren weißen Hut ab und hielt den Kopf ein Stück aus dem Fenster. Karen, die in der Mitte eingezwängt und der es dazu ein bißchen schlecht war, versuchte sich vorzustellen, sie wäre selbst ein Hund, denn wenn sie einer wäre, würde sie den Geruch mögen.
»Wieder daheim, wieder daheim, dideldideldei«, sagte die Großmutter vergnügt. Sie bog in eine holperige Auffahrt ein, und Karen erhaschte einen kurzen Blick auf ein riesiges Skelett, wie das Skelett eines Dinosauriers, im hohen, von Unkraut durchsetzten Gras. Das Ding war rostigrot, mit einem scharfen Rückgrat und vielen verkrusteten Knochen, die daraus hervorragten. Sie hätte gerne gefragt, was es war, hatte aber noch zuviel Angst vor ihrer Großmutter, und außerdem hatte der Lastwagen aufgehört, sich zu bewegen, dafür herrschte draußen ein ziemliches Getöse, ein Bellen und Zischen und Schnattern und Grunzen, und ihre Großmutter schimpfte: »Weg, weg mit euch, ksch, ksch, weg mit euch allen.«
Karen konnte nicht hinaussehen, also sah sie ihre Mutter an. Ihre Mutter saß kerzengerade, den Hut auf den Knien, die Augen fest geschlossen, und zerknüllte ihre weißen Baumwollhandschuhe zu einem kleinen Ball.
Das Gesicht der Großmutter tauchte im Fenster auf. »Um Himmels willen, Gloria«, sagte sie, als sie die Tür aufriß. »Es sind nur die Gänse.«
»Diese Gänse sind Killer«, sagte Karens Mutter, aber sie kletterte trotzdem aus dem Lieferwagen. Karen dachte, ihre Mutter hätte vielleicht lieber keine weißen Schuhe anziehen sollen, denn der Boden vor dem Haus war kein Rasen, sondern Lehm, zum Teil trocken, zum Teil nicht, und zum Teil war es kein Lehm, sondern Tierdreck von der unterschiedlichsten Sorte. Karen kannte nur die Sorte, die von Hunden stammte, weil es die in der Stadt auch gab. Jetzt waren zwei Hunde da, der schwarz-weiße Collie und ein größerer, braunweißer. Sie scheuchten bellend und mit ihren buschigen Schwänzen wedelnd eine Gänseherde in Richtung Scheune. Unmengen von Fliegen summten überall herum.
»Sie können einen wirklich ganz schön zwicken«, sagte Karens Großmutter. »Du darfst dir einfach nichts von ihnen gefallen lassen! Du mußt ihnen zeigen, wer der Herr ist!« Sie streckte die Arme nach Karen aus, um ihr herunterzuhelfen, aber Karen sagte: »Ich kann allein aussteigen«, und ihre Großmutter sagte: »So isses richtig.« Karens Mutter war schon vorgegangen, den kleinen Weekendkoffer in der einen Hand, während sie mit der Handtasche in der anderen nach den Fliegen schlug und mit ihren hochhackigen Schuhen über den Hof und durch den Kot stakste, und die Großmutter nutzte die Gelegenheit, um zu sagen: »Deine Mutter ist schwächlich. Hysterisch. Das ist sie schon immer gewesen. Ich hoffe, du bist es nicht.«
»Was ist das für’n Ding?« sagte Karen, die all ihren Mut zusammennahm, weil sie sah, daß das von ihr erwartet wurde.
»Was für’n Ding?«
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