Die Räuberbraut
und die Schatten, die die Äste warfen. Zuerst hatte sie Angst, weil sie nicht wußte, wo sie war oder wie sie hierher gekommen war. Ein intensiver, süßer Duft umgab sie, ein Schimmern von Blüten, Wolfsmilch, wie sie später erfuhr, und ein Flattern vieler Motten, deren weiße Flügel, die wie Schneeflocken waren, sie ganz sanft streiften. Irgendwo in der Nähe floß Wasser.
Sie hörte etwas atmen. Dann spürte sie, wie eine feuchte Schnauze sich in ihre Hand schob und etwas ihre Beine streifte. Die beiden Hunde waren bei ihr, einer auf jeder Seite. Hatten sie gebellt, als sie aus dem Haus kam? Sie wußte es nicht, sie hatte sie nicht gehört. Aber jetzt machte sie sich keine Sorgen mehr, weil sie den Weg zurück kennen würden. Sie blieb lange stehen und atmete und atmete, atmete den Geruch der Bäume und der Hunde und der Nachtblumen und des Wassers ein, weil das hier das Beste war, weil es das war, was sie wollte, nachts draußen im Freien sein, allein. Sie war nicht mehr krank.
Nach einer Weile schubsten die Hunde sie sanft an und drehten sie um und geleiteten sie zur dunklen Masse des Hauses zurück. Nirgends brannte Licht; sie dachte, sie könne ins Haus und die Treppe hinauf und in ihr Bett gehen, ohne daß ihre Großmutter etwas merken würde. Sie wollte nicht geschüttelt oder hart genannt oder mit irgendwas geschlagen werden. Aber als sie das Haus erreichte, stand ihre Großmutter davor, in einem langen, hellen Nachthemd, die Haare fedrig im Mondlicht, und hielt ihr die Tür auf, und sagte überhaupt nichts. Sie nickte Karen nur zu, und Karen ging hinein.
Sie fühlte sich willkommen, als wäre das Haus ein anderes Haus, in der Nacht; als wäre dies das erste Mal, daß sie es betrat. Sie wußte jetzt, daß auch ihre Großmutter schlafwandelte und daß auch ihre Großmutter in der Dunkelheit sehen konnte.
Am Morgen berührte Karen die Rückseite ihrer Beine. Nichts tat weh. Alles, was sie anstelle der klebrigen Striemen fühlen konnte, die vorher dagewesen waren, waren ein paar winzige Linien, wie Haare; wie Risse in einem Spiegel.
Das Zimmer, in dem Karen schlief, war das kleinste Zimmer im oberen Stock. Es war das Zimmer ihrer Mutter gewesen. Das Bett war schmal, mit einem zerkratzten Kopfteil aus dunkel gebeiztem Holz. Es war mit einer weißen Tagesdecke zugedeckt, die aussah wie viele zusammengenähte Raupen. Außerdem gab es eine blau gestrichene Kommode und einen dazu passenden Holzstuhl mit gerader Rückenlehne. Die Schubladen der Kommode waren mit Zeitungspapier ausgelegt; Karen legte ihre zusammengefalteten Kleider in die Schubladen. Die Vorhänge hatten ein verblaßtes Muster aus Vergißmeinnicht. Morgens schien die Sonne hindurch und machte den Staub auf der Kommode und auf den Streben des Stuhls sichtbar. Dann gab es noch einen geflochtenen, schäbig gewordenen Läufer, und einen dunklen Schrank, der in eine Ecke gezwängt war.
Karen wußte, daß ihre Mutter dieses Zimmer haßte; sie haßte das ganze Haus. Karen haßte es nicht, obwohl es einige Dinge gab, die sie seltsam fand. In dem großen Schlafzimmer nach vorne heraus, in dem ihre Großmutter schlief, stand eine ganze Reihe von Männerschuhen im Schrank. Es gab kein Badezimmer, sondern nur ein Außenklo mit einer Holzkiste mit Kalk und einer kleinen hölzernen Schaufel, mit der man den Kalk in das Loch werfen mußte. Es gab ein Wohnzimmer nach vorne heraus, mit dunklen Vorhängen und einer Sammlung indianischer Pfeile, die auf den Feldern und Wiesen aufgelesen worden waren, und hohe Stapel alter Zeitungen überall auf dem Boden. An der Wand hing ein gerahmtes Foto von Karens Großvater, von vor sehr langer Zeit, bevor er von einem Traktor zerquetscht wurde. »Er ist nicht mit Traktoren groß geworden«, sagte die Großmutter. »Nur mit Pferden. Das verdammte Ding hat ihn überrollt. Deine Mutter hat es gesehen, sie war erst zehn. Vielleicht ist sie damals aus der Spur gekippt. Er hat gesagt, es wär seine eigene Schuld, weil er sich mit den Erfindungen des Teufels abgegeben hätte. Er hat noch eine Woche gelebt, aber ich konnte nichts tun. Bei Knochen kann ich einfach nichts machen.« Sie sagte diese Dinge mehr zu sich selbst als zu Karen, so wie sie viele Dinge sagte.
Der Traktor selbst stand noch im Geräteschuppen; ihre Großmutter hatte ihn gefahren, bis sie zu alt wurde. Jetzt wurden die Felder von Ron Sloane bearbeitet, der ein Stück die Straße hinunter wohnte, und er benutzte seinen eigenen Traktor, seinen eigenen
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