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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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sagte ihre Großmutter. Ein mittelgroßes Schwein schmiegte sich an ihre Beine. Es schnüffelte mit seiner alarmierenden Schnauze an Karens Socken herum. Die Schnauze war feucht und weich wie ein Augapfel und sabberte wie ein Mund. »Das ist Pinky. Pinky ist ein Schwein.«
    »Nein«, sagte Karen. Sie wußte, daß es ein Schwein war, weil sie Bilder gesehen hatte. »Das große Ding da drüben.«
    »Ein alter Kultivator«, sagte ihre Großmutter und überließ es Karen, sich Gedanken darüber zu machen, was ein Kultivator war. »Komm jetzt!« Karens Koffer unter den Arm geklemmt, marschierte sie in Richtung Haustür, und Karen trabte hinter ihr her. In der Ferne war weiteres Bellen und Schnattern zu hören. Das Schwein folgte ihnen bis zur Haustür und kam dann zu Karens Überraschung einfach mit ihnen hinein. Es konnte die Fliegengittertür mit der Schnauze aufmachen.
    Sie standen in einer Küche, die bedeutend weniger wie ein Müllhaufen aussah, als Karen erwartet hatte. Es gab einen ovalen Tisch mit einer Wachstuchdecke – hellgrün mit einem Muster aus Erdbeeren – und einer riesigen Teekanne und mehreren benutzten Tellern darauf. Es gab mehrere Stühle, die apfelgrün angestrichen waren, und einen Küchenherd und ein durchgesessenes, kastanienbraunes Samtsofa, auf dem Berge von Zeitungen aufgestapelt waren. Auf dem Boden lagen weitere Zeitungen, und darüber eine ausgefranste Flickendecke.
    Karens Mutter saß in einem Schaukelstuhl am Fenster und sah erschöpft aus. Ihr beiges Leinenkostüm war völlig zerknittert. Sie hatte die Schuhe ausgezogen und fächelte sich mit ihrem Hut Luft zu, aber als das Schwein hereinkam, stieß sie einen kleinen Schrei aus.
    »Keine Sorge, sie ist stubenrein«, sagte die Großmutter.
    »Das ist wirklich das Letzte«, sagte Karens Mutter mit gepreßter, wütender Stimme.
    »Sauberer als die meisten Menschen«, sagte die Großmutter. »Und schlauer noch dazu. Abgesehen davon ist das hier mein Haus. Du kannst in deinem tun und lassen, was du willst. Ich hab dich nicht gebeten, hierher zu kommen, und ich werd dich nicht auffordern, wieder zu gehen, aber solange du hier bist, wirst du die Dinge bitte so nehmen, wie du sie vorfindest.«
    Sie kratzte das Schwein hinter den Ohren und gab ihm einen Klaps auf den Rumpf, und es grunzte leise und blinzelte zu ihr hinauf und trottete davon und ließ sich seitlich auf die Flickendecke plumpsen. Karens Mutter brach in Tränen aus und sprang aus dem Schaukelstuhl und lief auf Strümpfen aus dem Zimmer, die weißen Handschuhe vor die Augen gedrückt. Karens Großmutter lachte. »Es ist okay, Gloria«, rief sie hinter ihr her. »Pinky kann keine Treppen steigen!«
    »Wieso nicht?« sagte Karen. Ihre Stimme war fast ein Flüstern. Sie hatte noch nie erlebt, daß jemand so mit ihrer Mutter redete.
    »Weil ihre Beine zu kurz sind«, sagte ihre Großmutter. »Und jetzt kannst du dieses Kleid ausziehen, falls du noch was anderes dabei hast, und mir helfen, die Kartoffeln zu waschen.« Sie seufzte. »Ich hätte Söhne haben sollen.«
    Karen machte ihren Koffer auf und fand ihre langen Baumwollhosen und zog sich in einem Zimmer um, das ihre Großmutter als hinteres Wohnzimmer bezeichnete. Sie wollte keine Shorts anziehen, wegen ihrer Beine. Sie waren ein Geheimnis zwischen ihr und ihrer Mutter. Sie durfte niemand etwas sagen, von dem Besenstiel oder dem Pfannenwender, weil es sonst Ärger geben würde, so wie damals, als ihre Mutter einen Jungen aus der zweiten Klasse ins Gesicht geboxt und fast ihre Stellung verloren hatte, und wovon sollten sie dann leben?
    »Ich zeig dir dein Zimmer später, wenn Gloria mit ihrem Geschniefe fertig ist«, sagte ihre Großmutter. Dann half Karen ihrer Großmutter, die Kartoffeln zu waschen. Sie taten dies in einer kleineren Küche, die von der eigentlichen Küche abging und in der es einen Elektroherd gab und ein Spülbecken aus Blech mit einem Kaltwasserhahn. Ihre Großmutter nannte diesen Raum die Spülküche. Das Schwein folgt ihnen und grunzte hoffnungsvoll, bis es weggeschickt wurde. »Nicht jetzt, Pinky«, sagte die Großmutter. »Wenn sie zu viele rohe Kartoffeln frißt, wird ihr nämlich schlecht. Aber sie liebt sie nun mal. Sie trinkt übrigens auch ganz gerne mal einen, obwohl das genauso schlecht für sie ist. Die meisten Tiere besaufen sich ganz gern, wenn sie die Gelegenheit dazu haben.«
    Zum Abendessen gab es die Kartoffeln, gekocht, und eine Hühnerkasserolle, und Brot. Karen war nicht besonders hungrig.

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