Die Räuberbraut
Schrotflinte aus dem Haus und schoß Waldmurmeltiere; auch Kaninchen, aus denen sie Ragout machte. Sie tötete die Hühner, wenn sie zu alt waren, um noch zu legen, oder wenn sie einfach Lust auf eins hatte; sie schlug ihnen mit der Axt den Kopf ab, auf dem hölzernen Hackklotz, und die Hühner liefen stumm auf dem Hof herum, während das Blut aus ihrem Hals spritzte und der graue Rauch ihres Lebens aus ihnen aufstieg und der Regenbogen des Lichts um sie herum immer blasser wurde und schließlich ganz erlosch. Dann rupfte sie sie und nahm sie aus und sengte ihre Stoppelfedern mit einer Kerze ab, und wenn sie gebraten waren, nahm sie ihre Wünschelknochen und trocknete sie auf dem Fensterbrett. Sie hatte schon fünf. Karen wollte, daß sie einen davon zerbrachen, aber ihre Großmutter sagte: »Hast du denn einen Wunsch?« Und Karen wußte keinen. »Man muß sie für Zeiten aufbewahren, in denen man sie braucht«, sagte ihre Großmutter.
Karen stellt jetzt mehr Fragen; sie tut mehr Dinge. Ihre Großmutter sagt, sie wird allmählich härter. Wenn sie zum Hühnerstall geht, um die Eier zu holen, schlägt sie nach den Hühnern, wenn sie sie anzischen und versuchen, sie zu picken, und wenn der Hahn ihre nackten Beine anspringt, versetzt sie ihm einen Tritt; manchmal nimmt sie auch einen Stock mit, um ihn zu vertreiben. »Er ist ein hinterhältiger alter Teufel«, sagt ihre Großmutter. »Laß dir bloß nichts von ihm gefallen. Zieh ihm einfach eine über. Er wird dich dafür respektieren.«
Eines Morgens essen sie ihren Frühstücksspeck, als ihre Großmutter sagt: »Das hier ist Pinky.«
»Pinky?« sagt Karen. Pinky liegt auf der Flickendecke, auf der sie bei den Mahlzeiten immer liegt, blinzelt mit ihren borstigen Wimpern und hofft darauf, ein paar Brocken abzubekommen. »Pinky liegt da drüben!«
»Das hier ist die Pinky vom letzten Jahr«, sagt ihre Großmutter.
»Es gibt jedes Jahr eine neue.« Sie sieht Karen über den Tisch hinweg an. Auf ihrem Gesicht liegt ein listiger Ausdruck; sie ist gespannt, wie Karen reagieren wird.
Karen weiß nicht, was sie tun soll. Sie könnte anfangen zu weinen und vom Tisch aufspringen und aus dem Zimmer laufen, was ihre Mutter in dieser Situation tun würde, und was auch sie selbst am liebsten tun würde. Statt dessen legt sie die Gabel hin und nimmt das gummiartige, halbzerkaute Stück Frühstücksspeck aus dem Mund und legt es vorsichtig auf ihren Teller, und damit ist das Thema Speck für sie erledigt, von diesem Augenblick an, für immer.
»Um Himmels willen!« sagt ihre Großmutter bekümmert, aber auch ein bißchen verächtlich. Es ist, als hätte Karen bei irgend etwas versagt. »Es sind schließlich nur Schweine! Sie sind niedlich, wenn sie klein sind, und intelligent, aber wenn ich sie am Leben lasse, werden sie zu groß. Wenn sie erwachsen sind, werden sie gemein und hinterhältig, sie würden einen fressen, wenn sie könnten. Sie würden einen schneller fressen, als man gucken kann.«
Karen denkt daran, wie Pinky ohne Kopfüber den Hof läuft und der graue Rauch ihres Lebens aus ihr aufsteigt und ihr Regenbogenlicht zu nichts verblaßt. Was immer sonst ihre Großmutter sein mag, sie ist auch eine Mörderin. Kein Wunder, daß die Leute Angst vor ihr haben.
35
Es war Labour Day, der erste Montag im September. Der Tag, an dem Karens Mutter mit dem Zug kommen sollte, um Karen abzuholen und in die Stadt zurückzubringen. Karen hatte ihren Koffer gepackt. Sie weinte, in ihrem schmalen Bett, unter der Chenilledecke, unter ihrem Kopfkissen. Sie wollte ihre Großmutter nicht verlassen, aber sie wollte ihre Mutter sehen, an die sie sich – jetzt schon – nicht mehr deutlich erinnern konnte. Alles, woran sie sich erinnern konnte, waren ihre Kleider, und der Geruch nach Tabu, und eine ihrer Stimmen, die süße Stimme, die zu süße Stimme, die sie für die Zweitkläßler benutzte.
Ihre Mutter kam nicht. Statt dessen kam ein Anruf von Tante Vi, und Karens Großmutter sagte, es sei etwas dazwischengekommen, und Karen würde noch ein bißchen bleiben. »Du kannst mir bei den Tomaten helfen«, sagte sie. Karen pflückte die Tomaten und wusch sie in der Spülküche, und ihre Großmutter überbrühte sie mit kochendem Wasser und zog die Haut ab und kochte sie in Gläser ein.
Dann fing die Schule wieder an, und noch immer passierte nichts. »Es hat keinen Zweck, dich in unsere Schule zu schicken«, sagte Karens Großmutter. »Du würdest doch nur gleich wieder
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