Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
nicht auf dem Feld, wieso kommt er hierher? Meistens kommt niemand zu Besuch. Ihre Großmutter hat keine hohe Meinung von den Nachbarn. Sie sagt, sie haben dumme Ansichten und tratschen und starren sie an, wenn sie ihr auf der Straße begegnen, wenn sie zum Einkäufen in die Stadt fährt. Karen hat selbst gesehen, daß sie das tun.
    Der Lastwagen kommt schlingernd zum Stehen; die Gänse stürzen heran, die Hunde bellen. Die Tür des Lastwagens geht auf, und Ron Sloane fällt heraus. Stolpert heraus. Er hält seinen einen Arm fest. Die gebräunte Haut seines Gesichts sieht aus wie Packpapier, das rosige Rot ist völlig daraus verschwunden. »Wo ist sie?« sagt er zu Karen. Er riecht nach Schweiß und Angst. Sein Ärmel ist zerrissen, von seinem Arm tropft Blut. Nein, es tropft nicht, es läuft in Strömen, wie Karen jetzt sieht. Der Schmerz, die Gefahr, strahlen in Schockwellen von leuchtendem Rot von diesem Arm aus. Karen will schreien, kann aber nicht, sie kann sich nicht bewegen. Im Inneren ihres Kopfes ruft sie nach ihrer Großmutter, und ihre Großmutter kommt mit einem Eimer um die Ecke des Hauses und sieht das Blut und läßt den Eimer fallen. »Großer Gott«, sagt sie. »Ron.«
    Ron Sloane wendet ihr das Gesicht zu, und auf diesem Gesicht liegt ein demütiger Ausdruck hilflosen Flehens. »Die verdammte Mähmaschine«, sagt er.
    Karens Großmutter läuft auf ihn zu. »Still jetzt, still jetzt«, sagt sie zu den Hunden und Gänsen. »Aus, Cully!« Und die Tiere ziehen sich bellend und schnatternd zurück. »Es wird wieder gut«, sagt sie zu Ron. Sie streckt die Hand aus und berührt ihn, berührt seinen Arm, und sagt etwas. Und Karen sieht ein Licht, ein blaues Leuchten, das aus der Hand ihrer Großmutter kommt, und dann ist es verschwunden, und das Bluten hat aufgehört. »Es ist erledigt«, sagt sie zu Ron. »Aber du mußt ins Krankenhaus. Ich kann nur das Blut machen. Ich fahr dich, allein schaffst du es nicht. Es war eine Vene; sie wird in einer halben Stunde wieder anfangen. Hol ein nasses Tuch«, sagt sie zu Karen. »Ein Geschirrtuch. Kaltes Wasser.«
    Karen sitzt mit Glennie, dem Hund, auf der Ladefläche des Lastwagens ihrer Großmutter. Sie sitzt jetzt immer hinten, wenn sie kann. Die Luft wirbelt um sie herum, die Haare fliegen ihr ins Gesicht, die Bäume verschwimmen, es ist, als würde man fliegen. Sie fahren ins Krankenhaus, das zwanzig Meilen entfernt ist, in derselben Stadt wie der Bahnhof, und Ron steigt aus, und dann muß er sich hinsetzen und den Kopf hängenlassen, und dann legt Karens Großmutter einen Arm um ihn, und sie hinken gemeinsam ins Krankenhaus, wie die Leute bei einem Wettrennen auf drei Beinen. Karen und Glennie warten im Lastwagen.
    Nach einer Weile kommt ihre Großmutter heraus. Sie sagt, sie müssen Ron Sloane im Krankenhaus lassen, damit er genäht werden kann, daß aber alles wieder gut wird. Sie fahren zurück, um Mrs. Sloane zu sagen, was passiert ist, damit sie sich keine Sorgen macht. Sie sitzen an Mrs. Sloanes Küchentisch, und Karens Großmutter trinkt Tee und Karen ein Glas Limonade, und Mrs. Sloane weint und sagt vielen Dank, und die Großmutter sagt nicht: keine Ursache. Sie nickt nur, ein wenig steif, und sagt: »Danken Sie nicht mir. Ich bin’s nicht, die das macht.«
    Mrs. Sloane hat eine vierzehnjährige Tochter mit hellen Haaren, heller als Karens, und rosa Augen und einer Haut, die überhaupt keine Farbe hat. Sie reicht einen Teller mit gekauften Plätzchen herum und stiert Karens Großmutter so an, daß die rosa Augen ihr fast aus dem Kopf fallen. Mrs. Sloane kann Karens Großmutter nicht leiden, obwohl sie sie drängt, noch eine Tasse Tee zu trinken. Ihre weißhaarige Tochter kann die Großmutter auch nicht leiden. Statt dessen haben die beiden Angst vor ihr. Ihre Angst ist überall um ihre Körper herum, kleine, graue, eisige Schauder, wie Wind, der über einen Teich weht. Sie haben Angst, und Karen hat keine; oder nicht so viel. Sie würde auch gerne Blut berühren, sie würde es auch gerne zum Stillstand bringen.An den Abenden, wenn es kühler ist, gehen Karen und ihre Großmutter zum Friedhof. Er ist weniger als eine Meile entfernt. Karens Großmutter zieht jedesmal ihr Kleid an, aber Karen muß das nicht.
    Sie gehen immer zu Fuß, sie nehmen nie den kleinen Lastwagen. Sie gehen über die Schotterstraße, vorbei an den Zäunen und den Gräben und den verstaubten Gräsern, und Karen hält die Hand ihrer Großmutter. Sonst tut sie das nie, nur auf

Weitere Kostenlose Bücher