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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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rausgenommen.« Karen hatte nichts dagegen. Sie ging sowieso nicht gern zur Schule. Es fiel ihr schwer, sich auf so viele Leute gleichzeitig in einem Raum zu konzentrieren. Es war wie im Radio, wenn ein Gewitter aufzog: sie konnte kaum etwas hören.
    Ihre Großmutter holte die Bibel aus dem vorderen Wohnzimmer und stellte sie auf den Küchentisch. »Wollen wir mal sehen, sagte der Blinde«, sagte sie. Sie schloß die Augen und stocherte mit der Nadel. »Psalm 88. Den hatte ich schon mal. ›Du hast mir die Freunde und Gefährten entfremdet; mein Vertrauter ist nur noch die Finsternis.‹ Nun, das stimmt; es bedeutet, daß ich mich zum Gehen bereit machen sollte, und zwar ziemlich bald. Und jetzt du.«
    Karen nahm die Nadel und schloß die Augen, und ihre Hand folgte dem Sog, der sie nach unten zog. »Ah«, sagte ihre Großmutter blinzelnd. »Schon wieder Isebel. Die Geheime Offenbarung, 2, 20. ›Aber ich habe wider dich, daß du lässest das Weib Isebel, die da spricht, sie sei eine Prophetin, lehren und verführen meine Knechte, Hurerei zu treiben und Götzenopfer zu essen.‹ Ein seltsamer Vers für so ein kleines Mädchen.« Und sie lächelte Karen an, das Lächeln eines verschrumpelten Apfels. »Es muß so sein, daß du dir selbst vorauslebst.« Karen hatte keine Ahnung, was sie meinte.
     
    Schließlich war es Tante Vi, die kam, nicht Karens Mutter. Sie übernachtete nicht einmal im Haus der Großmutter, sondern im einzigen Hotel der Stadt, und die Großmutter fuhr Karen hin. Dieses Mal saß Karen nicht hinten auf der Ladefläche. Sie saß auf dem Beifahrersitz mit den Hundehaaren und hatte ihr Kleid an, dasselbe Kleid, das sie auch am Tag ihrer Ankunft getragen hatte, und sah aus dem Fenster und sagte kein Wort. Ihre Großmutter pfiff leise vor sich hin.
    Tante Vi war nicht besonders froh, Karen zu sehen, tat aber so. Sie gab Karen ein Küßchen auf die Wange. »Wie groß du geworden bist!« sagte sie. Es klang wie ein Vorwurf. »Hast du ihren Koffer?« sagte sie zur Großmutter.
    »Noch bin ich nicht senil, Viola«, sagte die Großmutter. »Wie käme ich dazu, ihren Koffer zu vergessen! Hier«, sagte sie dann leise zu Karen. »Ich hab dir einen Wünschelknochen reingetan.« Sie ging in die Hocke und legte ihre knochigen Arme um Karen, und Karen konnte ihren kantigen Körper spüren, solide wie ein Stein, und dann war ihre Großmutter nicht mehr da.
    Karen saß im Zug neben Tante Vi, die ein fürchterliches Getue machte. »Wir müssen dich sofort in der Schule anmelden«, sagte sie. »Du hast schon fast einen ganzen Monat verpaßt! Meine Güte, du bist ja braun wie eine Beere!«
    »Wo ist meine Mutter?« fragte Karen. Sie konnte sich an keine Beeren erinnern, die braun waren.
    Tante Vi runzelte die Stirn und wandte den Blick ab. »Deine Mutter fühlt sich nicht gut«, sagte sie.
    Als Karen in Tante Vis Haus ankam, ging sie in ihr übliches Zimmer mit den orange und rosa geblümten Vorhängen und machte als erstes ihren Koffer auf. Da war der Wünschelknochen, in ein Stück Pergamentpapier eingeschlagen, mit einem Gummiband drumherum, aus dem Glas neben dem Spülbecken, in dem ihre Großmutter alte Gummibänder sammelte. Sie wickelte ihn aus. Er roch säuerlich, aber intensiv und reich, wie eine Hand voller Erde. Sie versteckte ihn im Saum eines der Vorhänge. Sie wußte, daß Tante Vi ihn wegwerfen würde, wenn sie ihn fand.
     
    Karens Mutter ist in einem Gebäude, einem neuen, flachen, gelben Gebäude, das wie eine Schule aussieht. Tante Vi und Onkel Vern bringen Karen hin, damit sie ihre Mutter besuchen kann. Sie sitzen im Wartezimmer, auf harten Stühlen, die mit einem noppigen Stoff bezogen sind, und Karen hat Angst, weil Tante Vi und Onkel Vern so feierlich sind; feierlich und gleichzeitig begierig. Sie sind wie die Leute, die ihre Autos anhalten und aussteigen und gucken, wenn es einen Autounfall gegeben hat. Es ist etwas Schlimmes, es ist nicht schön, aber sie wollen daran teilhaben, was immer es ist. Karen würde lieber nicht daran teilhaben, sie würde lieber auf der Stelle zurückgehen, die Zeit zurückdrehen, bis sie wieder auf der Farm wäre, aber eine Tür geht auf, und ihre Mutter kommt herein. Sie geht langsam, streckt die Hand nach den Möbeln aus, wie um sich zu stützen. Sie schlafwandelt, denkt Karen. Früher waren die Finger ihrer Mutter schmal, die Nägel poliert. Sie war stolz auf ihre Hände. Jetzt sind ihre Hände geschwollen und plump, und sie trägt keinen Ehering mehr am

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