Die Räuberbraut
Ringfinger. Sie trägt einen grauen Morgenmantel und Pantoffeln, die Karen noch nie gesehen hat. Außerdem hat sie auch das Gesicht ihrer Mutter noch nie gesehen.
Jedenfalls nicht dieses Gesicht. Es ist ein flaches Gesicht mit einem dumpfen Glanz, wie bei den toten Fischen auf den weißen Emailleblechen in den Fischgeschäften. Ein verblassendes Licht, silbrig, wie Schuppen. Dieses Gesicht wendet sie jetzt Karen zu; es ist so ausdruckslos wie ein Teller. Augen aus Porzellan. Plötzlich ist Karen in diesen Augen eingerahmt, ein kleines, blasses Mädchen, das auf einem noppigen Stuhl sitzt, ein Mädchen, das ihre Mutter noch nie gesehen hat. Karen schlägt beide Hände vor den Mund und atmet ein, ein Ächzen, das Gegenteil eines Schreis.
»Gloria. Wie fühlst du dich?« sagt Onkel Vern.
Der Kopf von Karens Mutter schwingt zu ihm hinüber, ein gewichtiger Kopf, schwer. Die Haare darauf sind nach hinten gekämmt und mit Klammern festgesteckt. Karens Mutter hat ihre Haare immer auf Wickler gedreht, und wenn sie sie dann auskämmte, waren sie wellig. Diese Haare sind nichtssagend und glatt, und wie von einem Film überzogen, als hätten sie zu lange in einem Schrank gelegen. Karen denkt an den Kartoffelkeller ihrer Großmutter mit seinem Geruch nach eingeschlossener Erde und seinen Reihen von Einmachgläsern, leuchtende Beeren unter Glas, mit Staub überzogen.
»Gut«, sagt Karens Mutter nach einer Minute.
»Ich kann es nicht ertragen«, sagt Tante Vi. Sie betupft sich die Augen mit einem Taschentuch. Dann, mit festerer Stimme: »Karen, willst du deiner Mutter keinen Kuß geben?«
Tante Vis Fragen sind wie Befehle. Karin rutscht von ihrem Stuhl und geht zu dieser Frau. Sie legt nicht die Arme um sie, sie berührt sie nicht mit den Händen. Sie beugt sich aus der Hüfte vor und legt ihre Lippen an die Wange der Frau. Sie drückt fast gar nicht, aber ihr Mund sinkt immer tiefer in diese Wange ein, die wie kühler Gummi ist. Sie denkt an die kopflose Pinky, die auf dem Hof zusammenbricht und zu Schinken wird. Ihre Mutter fühlt sich so ähnlich an wie Frühstücksspeck. Karen wird ganz übel im Magen.
Ihre Mutter nimmt den Kuß passiv entgegen. Karen macht einen Schritt zurück. Um ihre Mutter herum ist jetzt kein rotes Licht. Nur ein blasser, violettbrauner Schimmer.
Auf dem Heimweg sitzt Karen zwischen Tante Vi und Onkel Vern auf dem Vordersitz, statt wie sonst auf dem Rücksitz. Tante Vi betupft sich die Augen. Onkel Vern fragt Karen, ob sie ein Eis haben will. Sie sagt nein danke, und er tätschelt ihr das Knie.
»Ich hab mich so gräßlich gefühlt, meine eigene kleine Schwester, aber ich mußte es tun«, sagt Tante Vi am Telefon. »Es war das dritte Mal, was hätte ich denn tun sollen? Keine Ahnung, wo sie sie herhatte! Ein Glück, daß das leere Röhrchen gleich neben ihr lag, so daß wir dem Arzt wenigstens sagen konnten, was sie genommen hatte. Es ist ein Wunder, daß wir gerade noch rechtzeitig kamen. Wahrscheinlich war es irgendwas in ihrer Stimme; na ja, schließlich war es nicht das erste Mal, daß ich diesen Ton hörte. Als wir hinkamen, war sie schon bewußtlos. Sie hatte noch wochenlang blaue Flecken am Mund, sie mußten ihn mit Gewalt aufbrechen, um den Schlauch einführen zu können, und heute war sie – man hätte sie nicht wiedererkannt. Ich weiß nicht – Schockbehandlung, nehm ich an. Wenn das nicht hilft, werden sie sie operieren müssen.« Sie sagt operieren mit jener feierlichen Stimme, der Stimme, mit der sie die Tischgebete spricht, als wäre es ein heiliges Wort. Sie will sie, diese Operation, das hört Karen. Wenn ihre Mutter operiert wird, wird ein Teil dieser Heiligkeit auf Tante Vi abfärben.
Karen ging zur Schule, wo sie wenig sagte und keine Freundschaften schloß. Sie wurde nicht von den anderen Kindern gehänselt, sie wurde größtenteils in Ruhe gelassen. Karen wußte, wie sie das machen, wie sie sich unsichtbar machen konnte. Sie mußte nur das Licht, das ihren Körper umgab, in sich einsaugen; es war, wie wenn man den Atem anhielt. Wenn die Lehrer sie ansahen, ging ihr Blick mitten durch sie hindurch und fiel auf die Kinder, die hinter ihr saßen. Auf diese Weise brauchte Karen kaum im Klassenzimmer zu sein. Sie ließ ihre Hände tun, was immer von ihnen verlangt wurde: lange Reihen von a’s und b’s, säuberliche Zahlenkolonnen. Sie bekam goldene Sterne für Ordentlichkeit. Ihre Schneeflocke und ihre Tulpe aus Papier gehörten zu den zehn, die an die Korkwand gepinnt
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