Die Räuberbraut
wurden.
Erst jede Woche, dann jede zweite Woche, dann jede dritte Woche, fuhr sie mit ihrer Tante und ihrem Onkel ins Krankenhaus, um ihre Mutter zu besuchen. Ihre Mutter war jetzt in einem anderen Krankenhaus. »Deine Mutter ist sehr krank«, sagte Tante Vi zu ihr, aber das wußte Karen auch von allein. Sie konnte sehen, wie die Krankheit sich über die Haut ihrer Mutter ausbreitete, wie wildwuchernde Haare auf Armen; wie zuckende Blitze, bloß sehr klein und langsam. Wie grauer Schimmel, der sich durch Brot fraß. Wenn ihre Mutter ganz von diesen Adern durchzogen war, würde sie sterben. Niemand konnte sie daran hindern, weil es das war, was sie wollte.
Karen überlegte, ob sie ihren Wünschelknochen benutzen sollte, aber sie wußte, daß es keinen Zweck haben würde. Wenn ein Wunsch in Erfüllung gehen sollte, mußte man ihn wirklich wollen, und sie wollte nicht, daß diese Frau am Leben blieb. Wenn sie ihre Mutter so zurückhaben könnte, wie sie früher war, in den guten Zeiten, dann ja. Aber sie wußte, daß das unmöglich war. Es war nicht genug von dieser Mutter übrig. Also ließ sie den Wünschelknochen im Saum des Vorhangs und sah nur gelegentlich nach, um sich zu vergewissern, daß er noch da war.
Karen saß in ihrem Zimmer. Manchmal schlug sie den Kopf vorsichtig gegen die Wand, damit sie nicht denken mußte. Oder sie sah viel aus dem Fenster. Oder sie sah in der Schule aus dem Fenster. Sie sah den Himmel an. Sie dachte an den Sommer. Vielleicht würden ihre Tante und ihr Onkel im nächsten Sommer in Urlaub fahren, und sie könnte wieder zu ihrer Großmutter auf die Farm und die Eier einsammeln und in der Sonne gelbe Bohnen pflücken.
Zu ihrem achten Geburtstag bekommt Karen eine Torte. Tante Vi hat sie gebacken und mit gekauften Zuckerrosen und acht Kerzen geschmückt. Sie fragt Karen, ob sie eine kleine Freundin einladen möchte, aber Karen sagt nein. Also essen sie das Geburtstagsessen allein, nur sie drei. Lieber Gott , segne dieses Mahl für uns , Amen. Es gibt Thunfisch-Sandwiches, und Sandwiches mit Eiersalat, und Erdnußbutter und Wackelpudding, und Tante Vi sagt: »Ist das nicht schön?« Und dann gibt es Fürst-Pückler-Eis in drei Farben, Weiß, Rosa und Braun. Und dann den Kuchen. Tante Vi zündet die Kerzen an und sagt zu Karen, sie soll sie ausblasen und sich etwas wünschen, aber Karen sitzt einfach nur da und sieht in die Flammen.
»Ich glaube, sie hat noch nie eine Geburtstagstorte bekommen«, sagt Tante Vi zu Onkel Vern, und Onkel Vern sagt: »Armes kleines Ding« und fährt ihr durch die Haare. Das tut er seit neuestem oft, und Karen mag es nicht. Onkel Verns Hände haben einen schweren Glanz, dick wie Gelee, klebrig, bräunlich-grün. Manchmal untersucht Karen ihre blonden Haare vor dem Spiegel, um zu sehen, ob etwas davon hängengeblieben ist.
»Wünsch dir was«, sagt Onkel Vern aufgekratzt. »Wünsch dir ein Fahrrad!«
»Du mußt die Augen dabei zumachen«, sagt Tante Vi.
Also macht Karen die Augen zu, um ihnen einen Gefallen zu tun, und sieht nur den Himmel und macht die Augen wieder auf und bläst gehorsam die Kerzen aus. Tante Vi und Onkel Vern klatschen in die Hände, und Onkel Vern sagt: »Du wirst es nicht glauben, aber sieh mal, was wir hier haben!« und rollt ein brandneues, knallrotes Fahrrad aus der Küche herein. Es ist mit rosa Bändern verziert und hat einen Luftballon an der einen Seite der Lenkstange. »Na, was sagst du jetzt?« sagt Onkel Vern eifrig.
Es ist fast schon dunkel; der Duft von frischgemähtem Gras weht durch das offene Fenster, die Junikäfer werfen sich gegen das Fliegengitter. Karen sieht das Fahrrad an, seine glitzernden Speichen und Ketten und die beiden schwarzen Reifen und weiß, daß ihre Mutter tot ist.
Ihre Mutter starb erst drei Wochen später, aber das hatte nichts zu sagen, weil es manchmal (denkt Charis) eine Zeitfalte gibt, so wie man das obere Bettlaken umschlägt, damit sich eine ordentliche Kante ergibt, und wenn man dann an irgendeinem Punkt eine Nadel durchsticht, liegen die beiden Löcher genau übereinander, und genauso ist es, wenn man in die Zukunft sieht. Es ist überhaupt nichts Geheimnisvolles dabei, genausowenig wie bei den Wellen, die vom Ufer eines Sees zurücklaufen, oder wie bei einem mehrstimmigen Lied, bei dem zwei Melodien gleichzeitig ablaufen. Die Erinnerung ist genau dieselbe Art von Überschneidung, dieselbe Art von Falte, nur nach hinten gerichtet.
Oder vielleicht befindet sich die Falte nicht in
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