Die Räuberbraut
die Mieten sind gestiegen, und viele der antiquarischen Buchläden und der verschrobeneren Künstler sind verschwunden. Im großen und ganzen ist die Mischung immer noch randgruppenartig, osteuropäische Lebensmittelläden, billige Büromöbelhandlungen, Bierkneipen im Country-and-Western-Stil; aber daneben gibt es jetzt auch Cafés und Bistros, schicke Nachtlokale, Kleider mit bedeutungsvollen Etiketten.
Die Rezession verschärft sich aber. Mehr Gebäude werden zum Verkauf angeboten; mehr Boutiquen haben zugemacht, und in den Türen derer, die noch offen sind, lauern die Verkäuferinnen und sehen die Vorübergehenden mit verzweifelten, flehentlichen Blicken an, die Augen erfüllt von verständnislosem Zorn. Preissturz, heißt es in den Fenstern: letztes Jahr um diese Zeit, zwei Monate vor Weihnachten, wäre so etwas undenkbar gewesen. Die Glitzerkleider an den ausdrucks- oder kopflosen Schaufensterpuppen sind nicht mehr das, was sie einst zu sein schienen, die Inkarnation des Begehrens. Statt dessen sehen sie aus wie die Überbleibsel nach einer Party. Zerknüllte Papierservietten, Müll, der von wütenden Menschenmengen oder plündernden Armeen zurückgelassen wird. Obwohl niemand sie gesehen hat oder mit Sicherheit sagen könnte, wer sie waren, sind die Goten und Vandalen durchgezogen.
Denkt Tony, die diese Kleider sowieso nie tragen könnte. Sie sind für Frauen mit langen Beinen, langen Oberkörpern und langen, anmutigen Armen gemacht. »Du bist nicht zu kurz geraten«, sagt Roz immer. »Du bist zierlich. Für eine Taille, wie du sie hast, würde ich einen Mord begehen.«
»Aber ich bin von oben bis unten überall gleich breit«, sagt Tony.
»Dann brauchen wir eben eine Mischung«, sagt Roz. »Wir nehmen deine Taille und meine Hüften und machen halbe-halbe. Einverstanden?«
Wenn sie jünger gewesen wären, hätten derartige Gespräche auf ernsthafte Unzufriedenheiten mit ihren eigenen Körpern hindeuten können, ernstliche Sehnsüchte. Inzwischen sind sie nur noch Repertoire. Mehr oder weniger.
Da ist Roz, vor dem Toxique, und winkt ihr zu. Tony geht zu ihr, Roz bückt sich, Tony hebt ihr das Gesicht entgegen, und sie küssen die Luft zu beiden Seiten ihrer Gesichter, wie es seit neuestem in Toronto, oder in gewissen Kreisen Torontos, Mode ist. Roz parodiert das Ritual, indem sie sich von innen auf die Wangen beißt, so daß ihr Mund wie der eines Fischs aussieht, und gleichzeitig schielt. »Prätentiös? Moi ?« sagt sie. Tony lächelt, und sie gehen gemeinsam hinein.
Das Toxique ist einer ihrer Lieblingstreffs: nicht allzu teuer, und es hat Pep, auch wenn es ein bißchen überspannt und ein bißchen schmuddelig ist. Unter den Tellern kleben manchmal die merkwürdigsten Sachen, die Kellner tragen Lidschatten oder Nasenringe, und die Kellnerinnen scheinen fluoreszierende Beinwärmer und lederne Mini-Shorts zu bevorzugen. An der einen Wand hängt ein langer Rauchglasspiegel, der aus irgendeinem inzwischen abgerissenen Hotel gerettet worden sein muß. Plakate längst vergangener Aufführungen alternativer Theatergruppen kleben an den Wänden, und Gestalten mit blasser Haut und Metallketten, die von ihren düsteren, nietenbesetzten Jacken und Hosen hängen, schlurfen zu den »privaten« Hinterzimmern oder konferieren auf der rissigen Treppe, die zu den Toiletten hinunterführt. Die Spezialität des Toxique sind ein Sandwich mit Ziegenkäse und gerösteten Pepperoni, eine neufundländer Kabeljaupastete und ein manchmal etwas glitschiger Riesensalat mit Unmengen von Walnüssen und geraspelten Wurzeln. Es gibt Baklava und Tiramisu und starken, süchtig machenden Espresso.
Sie gehen natürlich nicht abends hierhin, wenn die Rockgruppen und die hohen Dezibel die Herrschaft übernehmen. Aber für ein Lunch ist der Laden immer gut. Er muntert sie auf. Er gibt ihnen das Gefühl, jünger und wagemutiger zu sein, als sie es in Wirklichkeit sind.
Charis ist schon da. Sie sitzt in einer Ecke, an einem roten Kunststofftisch mit eingebackenen goldenen Sprenkeln und Aluminiumbeinen und Aluminiumeinfassung, der entweder ein Original aus den fünfziger Jahren oder aber eine Reproduktion ist. Sie hat bereits eine Flasche Wein und eine Flasche Evian bestellt. Sie sieht sie und lächelt, und luftige Küsse werden rundum ausgetauscht.
Heute trägt Charis ein sackartiges Kleid aus malvenfarbenem Baumwolljersey mit einem fusseligen grauen Pullover darüber und einem orange- und aquafarbenen Tuch mit einem Muster aus
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