Die Räuberbraut
Wiesenblumen um den Hals geschlungen. Ihre langen, glatten Haare sind graublond und in der Mitte gescheitelt; ihre Lesebrille sitzt über ihrer Stirn. Ihr pfirsichfarbener Lippenstift könnte ihre natürliche Lippenfarbe sein. Sie ähnelt einem etwas verblaßten Werbeplakat für Kräutershampoo – gesund, aber an der Grenze zum Antiquierten. Sie sieht aus, wie Ophelia ausgesehen hätte, wenn sie noch lebte, oder wie eine in die Jahre gekommene Jungfrau Maria – ernst und ein wenig abwesend, und mit einem inneren Licht. Es ist dieses innere Licht, das sie ständig in Schwierigkeiten bringt.
Roz ist in ein Kostüm gepackt, das Tony aus dem Fenster einer der teureren Boutiquen in der Bloor Street kennt. Sie kauft verschwenderisch und mit Genuß, aber oft in Eile. Die Jacke ist elektrisch-blau, der Rock eng. Ihr Gesicht ist sorgfältig gepudert, ihre Haare sind frisch gefärbt. Dieses Mal sind sie kastanienbraun. Ihr Mund ist himbeer.
Ihr Gesicht paßt nicht zu ihrer sonstigen Aufmachung. Es ist nicht hochmütig und schmal, sondern mollig, mit vollen, rosigen Milchmädchenwangen und Grübchen, wenn sie lächelt. Ihre Augen, intelligent und mitfühlend und düster, scheinen zu einem anderen Gesicht zu gehören, einem schmaleren Gesicht; schmaler, und härter.
Tony setzt sich und parkt ihre große Tragetasche unter ihrem Stuhl, damit sie sie als Fußschemel benutzen kann. Kleinwüchsige Könige früherer Zeiten besaßen speziell angefertigte Fußkissen, damit ihre Beine nicht baumelten, wenn sie auf ihrem Thron saßen. Tony hat vollstes Verständnis dafür.
»So«, sagt Roz, als die Begrüßungsformalitäten abgehakt sind. »Seid ihr alle da? Jaaaa! Was gibt’s Neues? Tony, ich habe bei Holt’s ein wirklich süßes Kleid gesehen, das wie für dich gemacht ist. Es hat einen Stehkragen – Stehkragen sind wieder in! – und Messingknöpfe vorne.« Sie steckt sich ihre übliche Zigarette an, und Charis läßt ihr übliches winziges Hüsteln hören. Dieser Teil des Toxique ist keine Nichtraucherzone.
»Ich würd aussehen wie ein Hotelpage«, sagt Tony. »Und außerdem würde es mir sowieso nicht passen.«
»Hast du schon mal an hochhackige Schuhe gedacht?« sagt Roz. »Du könntest zehn Zentimeter zulegen.«
»Sei nicht albern«, sagt Tony. »Ich will schließlich noch laufen können.«
»Du könntest dir auch eine Beinimplantation machen lassen«, sagt Roz. »Eine Beinverlängerung. Warum nicht? Die machen heutzutage schließlich noch ganz andere Sachen.«
»Ich finde, Tonys Körper ist richtig, so wie er ist«, sagt Charis.
»Ich red nicht von ihrem Körper, ich red von ihrer Garderobe«, sagt Roz.
»Wie immer«, sagt Tony. Sie lachen, ein bißchen ungestüm. Die Weinflasche ist inzwischen halb leer. Tony hat nur ein paar Tropfen davon getrunken, mit Wasser gemischt. Sie mißtraut dem Alkohol in jeder Form.
Die drei treffen sich einmal im Monat zum Lunch. Es ist eine feste Gewohnheit geworden, die sie nicht mehr missen möchten. Sie haben nicht viel gemeinsam, außer der Katastrophe, die sie zusammengeführt hat, falls man Zenia als Katastrophe bezeichnen kann; aber im Laufe der Zeit hat sich zwischen ihnen eine große Loyalität entwickelt, ein esprit de corps. Tony hat diese beiden Frauen in ihr Herz geschlossen; sie betrachtet sie als gute Freundinnen, soweit man bei ihr überhaupt von guten Freundinnen reden kann. Sie sind mutig, sie tragen Narben aus der Schlacht, sie sind durchs Feuer gegangen; und jede von ihnen weiß Dinge über die anderen, die niemand sonst weiß.
Und so treffen sie sich auch weiterhin regelmäßig, wie Kriegswitwen oder alternde Veteranen, oder wie die Frauen derer, die als vermißt gelten. Wie bei allen derartigen Gruppen sind mehr Personen um den Tisch versammelt als die, die man zählen kann.
Aber sie sprechen nicht über Zenia. Nicht mehr. Nicht seit sie sie beerdigt haben. Wie Charis sagt, könnte das Sprechen über sie sie auf dieser Erde festhalten. Wie Tony sagt, ist sie schlecht für die Verdauung. Und wie Roz sagt, wie kommen sie dazu, ihr Sendezeit zu geben?
Sie sitzt trotzdem mit am Tisch, denkt Tony. Sie ist hier, wir halten sie fest, wir geben ihr die Sendezeit. Wir können sie nicht loslassen.
Die Kellnerin kommt, um ihre Bestellungen aufzunehmen. Heute ist es ein Mädchen mit löwenzahngelben Haaren, leopardengemusterter Strumpfhose und kniehohen, silbernen Schnürstiefeln. Charis nimmt das Kaninchenentzücken – für Kaninchen, nicht aus ihnen mit
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