Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
geht an ihrem Tisch vorbei, als wären sie nicht da, als wär niemand da. Tony spürt, wie sie alle in dem sengenden Licht verblassen, das von ihr ausgeht. Das Parfüm, das sie trägt, ist nicht erkennbar: irgend etwas Intensives und Dunstiges, trotzig und unheilvoll. Der Geruch verbrannter Erde. Sie geht in den hinteren Teil des Raumes, setzt sich, zündet sich eine Zigarette an und sieht über ihre Köpfe hinweg aus dem Fenster.
    »Tony, was macht sie?« flüstert Roz. Tony ist die einzige, die Zenia deutlich sehen kann. Die anderen sitzen mit dem Rücken oder seitlich zu ihr.
    »Sie raucht«, sagt Tony. »Sie wartet auf jemanden.«
    »Aber was macht sie ausgerechnet hier?« sagt Roz.
    »Einen Ausflug in die Slums«, sagt Tony. »Genau wie wir.«
    »Ich kann’s einfach nicht glauben«, sagt Charis mit kläglicher Stimme. »Bis jetzt war es so ein schöner Tag.«
    »Nein, nein«, sagt Roz. »Ich mein, in dieser Stadt. Scheiße, ich mein, in diesem ganzen Land. Sie hat alle Brücken hinter sich abgebrochen. Was gibt es hier denn noch für sie?«
    »Ich will nicht über sie reden«, sagt Tony.
    »Ich will nicht mal an sie denken« , sagt Charis. »Ich will nicht, daß sie meinen Kopf durcheinanderbringt.«
    Aber es gibt keine Hoffnung, an etwas anderes zu denken.
     
    Zenia ist so schön wie eh und je. Sie trägt Schwarz, ein eng anliegendes Kleid mit einem großzügigen, weichen Ausschnitt, der den Ansatz ihrer Brüste freiläßt. Sie sieht, wie immer, wie ein Foto aus, ein erstklassiges Modefoto, aufgenommen mit jenem heißen Licht, das alle Sommersprossen und Falten verschwinden läßt, so daß nur die eigentlichen Gesichtszüge bleiben; in ihrem Fall der volle, rot-violette Mund, verächtlich und traurig; die riesigen, tiefliegenden Augen, die feingeschwungenen Augenbrauen, die hohen, durch einen Hauch von Terrakotta betonten Wangenknochen. Und ihre Haare, eine dichte Wolke von Haaren, die um ihren Kopf wehen, bewegt von dem kaum merklichen Wind, der sie überall begleitet, die Kleider an ihren Körper schmiegt, die dunklen Strähnen über ihrer Stirn launisch zerzaust, die Luft um sie herum mit einem raschelnden Geräusch erfüllt. Inmitten dieses unsichtbaren Tumults sitzt Zenia reglos, so still, als wäre sie aus Stein gehauen. Wellen der Böswilligkeit gehen von ihr aus wie kosmische Strahlung.
    Das zumindest ist das Bild, das Tony sieht. Es ist natürlich eine Übertreibung; es ist zu dick aufgetragen. Aber das sind nun einmal die Gefühle, die Zenia hervorruft: überdrehte Gefühle.
    »Gehen wir«, sagt Charis.
    »Du darfst dir von ihr keine Angst machen lassen«, sagt Tony, wie zu sich selbst.
    »Es ist keine Angst«, sagt Charis. »Sie macht mich krank. Sie macht mich so krank, daß ich mich selbst nicht mehr ausstehen kann.«
    Roz sagt nachdenklich: »Ja, sie hat diese Wirkung.«
    Die beiden anderen suchen ihre Taschen zusammen und beginnen mit dem Ritual der Aufteilung der Rechnung. Tony sieht immer noch zu Zenia hinüber. Es stimmt, sie ist so schön wie eh und je; aber jetzt kann Tony auch eine leichte, pudrige Stumpfheit erkennen, wie Mehltau auf einer Traube – ein leichtes Schrumpfen der Poren, ein Schrumpeligwerden, so als sei ein Teil des Safts aus ihrer Haut herausgesaugt worden. Tony findet das sehr beruhigend: Zenia ist also doch sterblich, wie sie alle.
    Zenia atmet Rauch aus und senkt den Blick. Sie starrt Tony an. Sie starrt mitten durch sie hindurch. Aber sie sieht sie. Sie sieht sie alle drei. Sie weiß, wie sie sich fühlen. Sie genießt es.
     
    Tony wendet den Blick ab. Das Herz in ihrem Inneren ist kalt und dicht, zusammengepreßt wie ein Schneeball. Gleichzeitig ist sie erregt, angespannt, als warte sie auf ein kurzes Wort, einen Befehl, abgehackt und tödlich. Vorwärts! Attacke! Feuer! Oder sonst etwas in der Art.
    Aber sie ist auch müde. Vielleicht hat sie keine Energie mehr für Zenia. Vielleicht ist sie ihr, dieses Mal, nicht gewachsen. Nicht, daß sie es je gewesen wäre.
    Sie konzentriert sich auf die glänzendrote Tischplatte, den schwarzen Aschenbecher mit den zerdrückten Kippen. Der Name des Restaurants ist als silberner Schriftzug eingeprägt: Toxique. Euqixot. Sieht aztekisch aus.
    Was hat sie vor? denkt Tony. Was will sie?
    Was macht sie hier, auf dieser Seite des Spiegels?

6
    Die drei marschieren durch die Tür, eine nach der anderen. Treten den Rückzug an. Tony unterdrückt das Bedürfnis, rückwärts zu gehen; die Verlustrate steigt, wenn man dem Feind den

Weitere Kostenlose Bücher