Die Räuberbraut
ihn sehen – der Anwalt erledigt das für sie und erstattet Tony anschließend Bericht. Charis muß nicht einmal die ganze Geschichte mit Onkel Vern erzählen, weil alles, was der Anwalt braucht, in den Testamenten steht, dem ihrer Mutter und dem ihrer Großmutter. Es ist völlig klar, was passiert ist: Onkel Vern hat das Geld aus dem Verkauf der Farm, Charis’ Geld, genommen und in sein eigenes Geschäft gesteckt. Er behauptet, er hätte versucht, Charis nach ihrem einundzwanzigsten Geburtstag zu finden, was ihm jedoch nicht gelungen sei. Vielleicht ist es sogar wahr.
Charis bekommt nicht soviel Geld, wie sie bekommen sollte – sie bekommt keine Zinsen, und Onkel Vern hat einen Teil des ursprünglichen Kapitals verbraucht, aber sie bekommt mehr, als sie je zuvor hatte. Sie bekommt auch einen kriecherischen Brief von Onkel Vern, in dem er schreibt, daß er sie gerne Wiedersehen würde, weil sie für ihn immer wie eine Tochter war. Anscheinend wird er allmählich senil. Charis verbrennt den Brief im Ofen.
»Ich frag mich, ob mein Leben besser verlaufen war, wenn ich einen richtigen Vater gehabt hätte«, sagt sie zu Tony.
»Ich hatte einen«, sagt Tony. »Es war ein gemischtes Vergnügen.«
Roz legt einen Teil von Charis’ Geld an. Es wird ihr nicht sehr viel einbringen, aber es wird eine kleine Hilfe sein. Einen Teil von dem, was übrig ist, verwendet Charis darauf, das Haus zu kaufen – der Besitzer will es loswerden, er glaubt, die Stadt wird jeden Augenblick mit dem Abriß anfangen, und von daher ist er froh, überhaupt etwas dafür zu bekommen. Nachdem sie das Haus gekauft hat, richtet sie es her, nicht völlig, aber ausreichend.
Roz kommt auf die Insel, weil sie es liebt, Häuser zu renovieren, sagt sie wenigstens. Sie ist noch größer, als Charis sie in Erinnerung hat; ihre Stimme ist lauter, und sie hat eine leuchtende, zitronenfarbene Aura, die Charis sogar ohne scharf hinzugucken sehen kann.
»Es ist herrlich«, sagt Roz. »Es ist wie ein Puppenhaus! Aber du brauchst unbedingt einen anderen Tisch, Süße!« Am nächsten Tag trifft der andere Tisch ein. Er ist rund und aus Eiche, genau der Tisch, den Charis sich schon immer gewünscht hat. Charis kommt zu dem Schluß, daß Roz – allem äußeren Anschein zum Trotz – ein sensibler Mensch ist.
Roz besorgt die Grundausstattung für das Baby, weil Tony nicht gerne einkauft und außerdem keine Ahnung hätte, was sie kaufen muß. Charis hat auch keine. Aber Roz hat ein eigenes Baby, und daher weiß sie alles, sogar, wie viele Handtücher man braucht. Sie sagt Charis, wieviel die Sachen gekostet haben, damit Charis ihr das Geld zurückgeben kann, und Charis ist überrascht, wie billig alles ist. »Süße, ich bin eine geborene Schnäppchenjägerin«, sagt Roz. »Was du jetzt noch brauchst, ist ein Glücksapfel. Das sind Äpfel aus Plastik, die in der Badewanne klimpern – ich schwör auf sie!«
Charis, einst so groß und schlank, ist jetzt groß und behäbig. Tony verbringt die letzten beiden Wochen der Schwangerschaft in Charis’ Haus. Sie kann sich das leisten, sagt sie, weil Sommerferien sind. Sie hilft Charis bei ihren Atemübungen, kontrolliert die Zeit auf ihrer Uhr mit den riesigen Ziffern und hält Charis’ Hand mit ihrer kleinen Hand, die auf so seltsame Weise an eine Eichhörnchenpfote erinnert. Charis kann nicht richtig glauben, daß sie tatsächlich ein Baby bekommt; oder vielmehr kann sie nicht richtig glauben, daß dieses Baby bald nicht mehr in ihr sein wird. Sie weiß, daß es da drin ist, sie spricht ständig mit ihm. Bald wird sie in der Lage sein, auch seine Stimme zu hören.
Sie verspricht ihm, daß sie es nie im Zorn anfassen wird. Sie wird es niemals schlagen, ihm nicht einmal einen Klaps geben. Und sie tut es auch fast nie.
Zum Schluß geht Charis doch ins Krankenhaus, weil Tony und Roz beschlossen haben, daß es besser ist: falls es Komplikationen geben sollte, müßte Charis in einem Polizeiboot aufs Festland gebracht werden, was nicht gerade angenehm wäre. Als August geboren ist, hat sie einen goldenen Heiligenschein, wie Jesus auf den Weihnachtskarten. Niemand kann ihn sehen, aber Charis sieht ihn. Sie hält August in den Armen und schwört, so gut zu sein, wie es ihr nur möglich ist, und dankt ihrem ovalen Gott.
Jetzt, wo August in der Außenwelt ist, fühlt Charis sich mehr verankert. Verankert, oder vertäut. Sie wird nicht mehr so sehr vom Wind umhergeweht; ihre ganze Aufmerksamkeit gilt dem Jetzt.
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