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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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liegen und sieht ihr beim Anziehen zu. Bevor sie hinuntergeht, geht sie zu ihm und küßt ihn auf die Stirn. Sie möchte, daß er etwas sagt, aber er tut es nicht.
    Als erstes macht sie den Ofen an, dann füllt sie den Wassereimer. Sie hört Billy oben herumgehen; Zenia ebenfalls, was ungewöhnlich ist. Vielleicht packt sie, vielleicht geht sie endlich. Charis hofft es sehr. Zenia kann nicht länger hierbleiben, sie verursacht zu viele Störungen der Atmosphäre.
    Charis geht nach draußen und öffnet das Tor zur Einfriedung der Hühner. Heute morgen kann sie sie nicht herumrascheln hören, sie kann kein schläfriges Gurren hören. Schlafmützen! Sie öffnet die Tür für die Hühner, aber sie kommen nicht heraus. Verwundert geht sie zur Tür für die Menschen und betritt das Hühnerhaus.
    Die Hühner sind alle tot. Jedes einzelne von ihnen, sie liegen tot in ihren Boxen, zwei von ihnen auf dem Boden. Alles ist voller Blut, das Stroh ist blutig, Blut tropft von den Boxen herunter. Sie hebt eins der toten Hühner auf: sein Hals ist durchgeschnitten.
    Sie steht da, schockiert und entsetzt, und versucht, sich zusammenzuhalten. Ihr Kopf ist wie eine Wolke, rote Fetzen wirbeln hinter ihren Augen. Ihre wunderschönen Hühner! Es muß ein Wiesel gewesen sein. Was sonst? Aber würde ein Wiesel nicht das Blut trinken? Vielleicht war es einer der Nachbarn, keiner der näheren Nachbarn, sondern jemand anderes. Wer haßt sie so sehr? Die Hühner; oder sie und Billy. Sie hat das Gefühl, vergewaltigt worden zu sein.
    »Billy«, ruft sie. Aber er kann sie nicht hören, er ist im Haus. Sie geht mit schwankenden Schritten zum Haus zurück; sie denkt, daß sie gleich ohnmächtig werden wird. Sie erreicht die Küche und ruft noch einmal. Er muß wieder eingeschlafen sein. Schwerfällig geht sie die Treppe hinauf.
    Billy ist nicht da. Er ist nicht im Zimmer, und als sie einen Blick in Zenias Zimmer wirft, ist er auch da nicht. Wieso hat sie erwartet, daß er dort ist?
    Zenia ist auch verschwunden. Sie sind beide weg. Sie sind nicht im Haus.
    Charis läuft, läuft keuchend zur Anlegestelle der Fähre. Sie weiß jetzt Bescheid. Es ist tatsächlich passiert: Billy ist entführt worden. Als sie die Anlegestelle erreicht, tutet die Fähre, legt ab, und da steht Billy und zwei fremde Männer dicht neben ihm. Zwei Männer in Mänteln, genau so, wie man sie sich immer vorstellt. Neben ihm steht Zenia. Sie muß ihn verraten haben, sie muß ihn angezeigt haben.
    Billy winkt nicht. Er will nicht, daß die beiden Männer mitbekommen, daß Charis etwas mit ihm zu tun hat. Er versucht, sie zu schützen.
    Sie geht langsam zum Haus zurück, geht langsam hinein. Sie durchsucht es von oben bis unten, sucht nach einem Brief, findet aber keinen. Im Spülstein findet sie das Brotmesser, mit Blut an der Klinge.
    Es war Zenia. Zenia hat ihre Hühner ermordet.
    Vielleicht wurde Billy nicht entführt. Vielleicht ist er durchgebrannt. Mit Zenia. Das hat er gemeint, als er sagte, daß es keine Narbe gibt: keine Narbe an Zenia. Er weiß es, weil er es gesehen hat. Er hat Zenias Körper gesehen, von oben bis unten, bei Licht. Er weiß alles, was es über diesen Körper zu wissen gibt. Er ist in ihm drin gewesen.
    Charis sitzt am Küchentisch, schlägt langsam mit dem Kopf dagegen, versucht, alle Gedanken zu vertreiben. Aber sie denkt trotzdem. Wenn es keine Narbe gibt, kann es auch keinen Krebs geben. Zenia hat keinen Krebs, genau wie Billy gesagt hat. Aber wenn das stimmt, was hat Charis dann die letzten sechs Monate getan? Sich lächerlich gemacht. Sich zum Narren gemacht. Sich so absolut dumm verhalten, daß es ein Wunder ist, daß sie überhaupt einen Verstand hat.
    Sie hat sich betrügen lassen. Wie lange, wie oft? Er hat versucht, es ihr zu sagen. Er hat versucht, Zenia aus dem Haus zu bekommen, aber dann war es zu spät.
    Und was die toten Hühner und das Brotmesser angeht, so sind sie eine Botschaft. Schneid dir die Pulsadern auf. Sie hört eine Stimme, eine Stimme von vor langer Zeit, mehr als eine. Du bist so dumm. Du kannst diesen Kampf nicht gewinnen. Nicht in diesem Leben. Sie hat sowieso fast genug von diesem Leben; vielleicht ist es Zeit für das nächste. Zenia hat den Teil von Charis mitgenommen, den Charis zum Leben braucht. Sie ist dumm, sie ist ein Versager, sie ist ein Idiot. Die schlimmen Dinge, die ihr zugestoßen sind, sind eine Strafe, sie sollen ihr eine Lektion erteilen. Die Lektion lautet, daß sie genausogut aufgeben kann.
    Es ist

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