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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Sie ist in ihr eigenes, milchiges Fleisch zurückgedrängt worden, in die Schwere ihrer Brüste, in ihr eigenes Schwerkraftfeld. Sie liegt unter ihrem Apfelbaum, auf einer Decke, die sie über das struppige Gras gebreitet hat, in der feuchten Luft, in der Sonne, die durch die Blätter filtert, und singt August etwas vor. Karen ist zum Glück weit weg: auf Karen wäre in der Nähe kleiner Kinder kein Verlaß.
    Tony und Roz sind Augusts Patinnen. Nicht offiziell natürlich, weil es auf der ganzen Welt keine Kirche gibt, die die Dinge so machen würde, wie Charis sie haben will. Sie führt die Zeremonie selbst durch, mit der Bibel ihrer Großmutter und einem sehr machtvollen runden Stein, den sie am Strand gefunden hat, und einer Kerze aus Myrtenwachs, und Quellwasser aus einer Flasche, und Tony und Roz versprechen, über August zu wachen und ihren Geist zu beschützen. Charis ist froh, daß sie August zwei so praktische und realistische Frauen als Patinnen geben kann. Sie werden nicht zulassen, daß aus ihr ein Schwächling wird, sie werden ihr zeigen, wie man für sich selbst einsteht – etwas, bei dem Charis nicht sicher ist, daß sie selbst es vermitteln könnte.
    Natürlich ist auch eine dritte Patin anwesend – eine dunkle Patin, eine, die unheilvolle Geschenke bringt. Der Schatten Zenias fällt über die Wiege. Charis betet, daß es ihr gelingen wird, genügend Licht auszustrahlen, aus ihrem eigenen Inneren, um den Schatten zu vertreiben.
     
    August wird größer, und Charis hegt sie voller Freude, denn August ist ein glückliches Kind, glücklicher, als Charis je war, als sie noch Karen war, und Charis fühlt, wie die Risse in ihrem eigenen Leben heilen. Wenn auch nicht ganz, niemals ganz. Abends nimmt sie lange Bäder, mit Lavendel- und Rosenwasser, und stellt sich vor, wie die negativen Gefühle aus ihrem Körper heraus und ins Badewasser fließen, und wenn sie den Stöpsel zieht, wirbeln sie durch den Abfluß davon. Es ist etwas, was sie häufig wiederholen muß. Sie hält sich von Männern fern, weil Männer und Sex zu schwierig für sie sind, sie sind zu eng mit Gefühlen von Zorn und Scham und Haß und Verlust verwoben, mit dem Geschmack von Erbrochenem und dem Geruch von ranzigem Fleisch, mit den kleinen, goldenen Härchen auf Billys verschwundenen Armen, und mit Hunger.
    Da ist es schon besser, sie bleibt für sich, und bei August. Augusts Aura ist osterglockengelb, kräftig und klar. Schon im Alter von fünf Jahren hat sie ganz entschiedene eigene Meinungen. Charis ist froh darüber; sie ist froh, daß August kein Fisch ist, so wie sie. August hat nur wenige elektrische Fühler, wenige Ahnungen; sie kann nicht einmal sagen, wann es regnen wird. Derartige Dinge sind Gaben, sicher, aber sie haben auch ihre Tücken. Charis schreibt Augusts Horoskop in eines ihrer Notizbücher, ein malvenfarbenes: Zeichen, Löwe; Stein, Diamant; Metall, Gold; Regent, die Sonne.
     
    In all dieser Zeit hört sie nichts von Billy, kein einziges Wort. Charis beschließt, August zu erzählen – wenn sie alt genug dafür ist –, daß ihr Vater starb, als er tapfer in Vietnam kämpfte. Es ist eine ähnliche Geschichte wie die, die sie selbst erzählt bekam, und möglicherweise genauso zutreffend. Sie hat jedoch kein feierliches Foto von Billy in Uniform, aus dem einfachen Grund, daß er nichts dergleichen besaß. Das einzige Foto, das sie von ihm hat, ist ein Schnappschuß, der von einem seiner Freunde aufgenommen wurde. Auf diesem Foto hat er eine Bierdose in der Hand und trägt ein T-Shirt und Shorts; es wurde aufgenommen, als er am Hühnerhaus arbeitete. Er sieht ein bißchen beschwipst aus, und der obere Teil seines Kopfes ist abgeschnitten. Charis findet nicht, daß es sich dazu eignet, gerahmt zu werden.
     
    Die Fähre legt an, der Laufsteg senkt sich, und Charis geht hinüber und atmet die frische Inselluft ein. Trockenes Gras wie Orgelpfeifen, Lehm wie ein Cello. Und da ist sie also, wieder in ihrem Haus, ihrem zerbrechlichen, aber beständigen Haus, ihrem lose gefügten Haus, das immer noch steht, ihrem Haus mit den üppigen Blumen, ihrem Haus mit den rissigen Wänden, ihrem Haus mit dem kühlen, weißen, friedlichen Bett.
    Ihr Haus, ihres allein; nicht Billys und Zenias Haus, obwohl sich alles hier abspielte. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, hierzubleiben. Sie hat die Fragmente der beiden exorziert, sie hat Süßgras verbrannt, sie hat alle Zimmer geläutert, und die Geburt Augusts war in sich ein

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