Die Räuberbraut
Karen, die da spricht. Karen ist zurück. Karen hat die Kontrolle über ihren gemeinsamen Körper übernommen. Karen ist wütend auf sie, Karen ist verzweifelt, Karen ist durch und durch angewidert, Karen will, daß sie beide sterben. Sie will ihren Körper töten. Schon hat sie das Messer in der Hand, nähert es ihrem gemeinsamen Arm. Aber wenn sie das tut, wird das Baby auch sterben, und das kann Charis nicht zulassen. Sie ruft all ihre Kraft, all ihr inneres, heilendes Licht, das grimmige, blaue Licht ihrer Großmutter, in ihre Hände; lautlos ringt sie mit Karen um den Besitz des Brotmessers. Als sie es hat, stößt sie Karen von sich fort, so fest sie kann, zurück in die Schatten. Dann wirft sie das Messer durch die Tür.
Sie wartet darauf, daß Billy zurückkommt. Sie weiß, daß er nicht zurückkommen wird, aber sie wartet trotzdem. Sie sitzt am Küchentisch, ohne sich zu bewegen, und zwingt ihren Körper, sich nicht zu bewegen. Sie wartet den ganzen Nachmittag. Dann geht sie ins Bett.
Am nächsten Tag steht sie nicht mehr so neben sich selbst. Statt dessen ist sie außer sich vor Angst. Das Schlimmste ist, nichts zu wissen. Vielleicht hat sie Billy Unrecht getan, vielleicht ist er nicht mit Zenia durchgebrannt. Vielleicht ist er im Gefängnis und bekommt unter der Dusche die Kehle durchgeschnitten. Vielleicht ist er tot.
Sie ruft alle Nummern an, die neben dem Telefon an der Wand stehen. Sie fragt, sie hinterläßt Nachrichten. Keiner seiner Freunde hat etwas gehört oder gibt zu, etwas gehört zu haben. Wer sonst könnte wissen, wo er ist, w r o er hingegangen sein könnte? Er, oder Zenia, oder die beiden zusammen. Wer sonst kennt Zenia?
Ihr fällt nur einer ein: West. West hat mit Zenia zusammengelebt, bevor sie mit einem blauen Auge an Charis’ Schwelle auftauchte. Charis sieht dieses blaue Auge jetzt in einem anderen Licht. Vielleicht gab es einen triftigen Grund für seine Existenz.
West unterrichtet an der Universität, das hat Zenia ihr erzählt. Er unterrichtet Musik oder etwas Ähnliches. Sie überlegt, ob er sich West oder Stewart nennt. Sie wird nach beiden fragen. Es dauert nicht lange, bis sie seine Privatnummer hat. Sie wählt, und eine Frau antwortet. Charis erklärt, daß sie Zenia sucht.
»Zenia 7 « sagt die Frau. »Warum zum Teufel sollte jemand Zenia suchen wollen?«
»Wer spricht denn da?« sagt Charis.
»Antonia Fremont«, sagt Tony.
»Tony«, sagt Charis. Jemand, die sie kennt, mehr oder weniger. Sie wundert sich nicht einmal darüber, daß Tony an Wests Telefon geht. Sie holt tief Luft. »Weißt du noch, wie du mal versucht hast, mir zu helfen 7 Auf dem Rasen vor der McClung Hall? Und ich hab gar keine Hilfe gebraucht?«
»Ja«, sagt Tony vorsichtig.
»Jetzt brauch ich sie.«
»Hilfe wegen Zenia?« fragt Tony.
»Gewissermaßen«, sagt Charis.
Tony sagt, daß sie kommt.
38
Tony nimmt die Fähre zur Insel. Sie sitzt an Charis’ Küchentisch und trinkt Pfefferminztee und hört sich die ganze Geschichte an und nickt von Zeit zu Zeit, den Mund leicht geöffnet. Sie stellt ein paar Fragen, zieht aber nichts in Zweifel. Als Charis sagt, wie dumm sie gewesen ist, sagt Tony, daß Charis keineswegs besonders dumm war; nicht dümmer als Tony selbst. »Zenia ist verdammt gut, wenn sie sich was vorgenommen hat.« So drückt Tony es aus.
»Aber sie hat mir so leid getan!« sagt Charis. Die Tränen laufen ihr über das Gesicht; sie kann sie anscheinend nicht zurückhalten. Tony reicht ihr ein zerknülltes Papiertaschentuch.
»Mir auch«, sagt sie. »Sie ist eine Expertin auf dem Gebiet.«
Sie erklärt, daß es nicht West gewesen sein kann, der Zenia das Auge blaugeschlagen hat, nicht nur, weil West niemals jemandem das Auge blauschlagen würde, sondern auch, weil West zum betreffenden Zeitpunkt gar nicht mit Zenia zusammengelebt hat. Schon seit über anderthalb Jahren nicht mehr. Er hat mit Tony zusammengelebt.
»Aber vermutlich hätte er es auch tun können, wenn er ihr zufällig auf der Straße begegnet wäre«, sagt sie. »Es wäre definitiv eine Versuchung. Ich weiß nicht, was ich täte, wenn ich Zenia Wiedersehen würde. Sie mit Benzin übergießen vielleicht. Und anzünden.«
Was Billy angeht, so denkt Tony, daß Charis ihre Zeit nicht damit vergeuden soll, ihn zu suchen; erstens, weil sie ihn niemals finden würde; zweitens, was wäre, wenn sie es täte? Wenn er von den Mounties entführt wurde, kann sie ihn sowieso nicht retten, dann sitzt er wahrscheinlich schon in
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