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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Rücken zukehrt.
    Nicht etwa, daß Zenia einen Revolver hätte. Aber Tony spürt, wie der verächtliche, ultramarinblaue Blick sich wie ein Laserstrahl durch den Rücken ihres dünnen, getüpfelten Rayonkleidchens bohrt. Lächerlich, denkt Zenia garantiert. Garantiert lacht sie; oder lächelt, die Winkel ihres üppigen Mundes hochgezogen. Sie drei sind nicht wichtig genug für ein Lachen. Beraubt, murmelt Tony vor sich hin. Wie der Mittel, der Rüstung, der Würde.
    Heute morgen hat Tony sich noch sicher gefühlt, sicher genug. Jetzt nicht mehr. Alles ist in Frage gestellt. Selbst im besten Fall ist die tägliche Welt für sie etwas hochgradig Gefährdetes, eine dünne, schillernde Haut, die nur durch ihre Oberflächenspannung an Ort und Stelle gehalten wird. Sie gibt sich die größte Mühe, sie zusammenzuhalten, diese durch ihre Willenskraft geschaffene Illusion von Behaglichkeit und Stabilität, die Worte, die von links nach rechts fließen, die Gewohnheiten der Liebe; aber darunter liegt Dunkelheit. Bedrohung, Chaos, brennende Städte, einstürzende Türme, die Anarchie tiefen Wassers. Sie atmet tief durch, um sich zu beruhigen und spürt, wie Sauerstoff und Autoabgase in ihr Gehirn rauschen. Ihre Beine sind wie aus Gummi, die Fassade der Straße kräuselt sich, zittert wie eine Spiegelung in einem Teich, das schwache Sonnenlicht weht davon wie Rauch.
    Aber als Roz ihr anbietet, sie nach Hause oder egal wohin zu fahren, sagt Tony, daß sie lieber zu Fuß geht. Sie braucht den Abstand, sie braucht den Raum, sie braucht die Zeit, um sich auf West vorzubereiten.
    Dieses Mal küssen die drei nicht die Luft. Dieses Mal umarmen sie sich. Charis zittert, trotz ihrer Bemühung um heitere Gelassenheit. Roz ist flapsig und abfällig, kämpft aber mit den Tränen. Sie wird in ihrem Auto sitzen und heulen und ihre Tränen am hellen Ärmel ihrer Jacke trocknen, bis sie wieder in der Lage ist, in ihr Penthouse-Büro zurückzufahren. Charis dagegen wird zur Anlegestelle der Inselfähre hinunterschlendern, in Schaufenster starren und blindlings über Straßen laufen. Auf der Fähre wird sie die Möwen beobachten und sich vorstellen, sie sei eine von ihnen und versuchen, nicht an Zenia zu denken. Tony hat beschützerische Gefühle für die beiden. Was wissen sie schon über die harten, dunklen Entscheidungen? Keine von ihnen wird ihr in dem bevorstehenden Kampf eine große Hilfe sein. Aber schließlich haben sie nichts zu verlieren. Nichts, oder besser gesagt, niemanden. Tony schon.
     
    Sie geht die Queen entlang und biegt dann nördlich in die Spadina ein. Sie zwingt ihre Füße, sich zu bewegen, sie zwingt die Sonne, zu scheinen. Der aber fürchtet sein Geschick, wähnt sein Verdienst zu klein, der nie den Sieg anstrebt und wagt, Verlierer auch zu sein, wiederholt sie im Geiste. Ein Vers, der Mut macht, generell beliebt, bei Generälen beliebt. Was sie braucht, ist eine Perspektive. Eine Evitkepsrep. Ein Begriff aus der Medizin.
    Allmählich beruhigt sich ihr Herz. Es ist tröstlich, unter lauter Fremden zu sein, die keine Anstrengungen von ihr verlangen, keine Erklärungen, keine Bestätigungen. Sie liebt die bunte Mischung dieser Straße, die Mischung der Hautfarben. Chinatown hat den größten Teil übernommen, aber es gibt auch noch ein paar jüdische Delikatessenläden, und, ein Stück die Straße hinauf und dann nach rechts, die portugiesischen und westindischen Läden des Kensington Market. Rom im zweiten Jahrhundert, Konstantinopel im zehnten, Wien im neunzehnten. Eine Straßenkreuzung. Die Menschen, die aus anderen Ländern stammen, sehen aus, als versuchten sie angestrengt, etwas zu vergessen, die von hier, als versuchten sie, sich an etwas zu erinnern. Oder vielleicht ist es auch umgekehrt. Jedenfalls haben ihre Augen etwas nach innen Gerichtetes, mit sich selbst Beschäftigtes, etwas seitlich Blickendes. Musik von anderswo.
    Auf dem Bürgersteig drängeln sich Menschen, die ihre Mittagspause zum Einkäufen nutzen; anscheinend ohne hinzusehen weichen sie Zusammenstößen aus, als hätten sie überall Schnurrhaare, wie eine Katze. Tony schlängelt sich zwischen ihnen hindurch, vorbei an den Gemüsehandlungen mit ihren Karambolas und Litschis und länglichen, knittrigen Kohlköpfen, die auf Ständen draußen aufgebaut sind, den Metzgern mit ihren glasierten, rötlichen Enten, die in den Fenstern baumeln, den Wäschegeschäften mit ihren durchbrochenen Tischdecken und ihren seidenen Kimonos mit den auf dem Rücken

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