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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Arbeitszimmer im zweiten Stock, sie haben ihre Schuhe ausgezogen und lecken sich die Finger ab.
    Der Fernseher steht in Wests Arbeitszimmer, damit er darauf Videos abspielen kann, auf denen Geräusche als Farben und wabernde Linien dargestellt sind, aber sie benutzen ihn auch, um sich alte Spielfilme und billige, spätabendliche Krimiserien anzusehen. West ist mehr für die Spielfilme, aber heute abend ist Tony mit Aussuchen an der Reihe, und sie entscheidet sich für die Wiederholung einer Polizeiserie, die auf der Schund-und-Schrott-Skala ganz oben angesiedelt ist und von Ausbrüchen grundloser Gewalt nur so wimmelt.
    Tonys Studenten würden lächeln, wenn sie sie dabei ertappen würden; sie stehen unter der Illusion, daß ältere Menschen, allen voran ihre Lehrer, auf keinen Fall so oberflächlich und denkfaul sein können wie sie selbst. Tony beobachtet, wie eine Frau ihre frischgewaschenen Haare kämmt und eine andere sich über eine neue Monatsbinde begeistert, die besonders geschwungen ist, um die Tropfen besser auffangen zu können. Sie beobachtet weiter, wie zum hundertsten, zum tausendsten Mal, ein Mann Anstalten trifft, einen anderen zu töten.
    Diese Männer haben immer ein passendes Wort parat, bevor sie das Messer werfen oder das Genick brechen oder den Abzug drücken. Möglich, daß das nur ein Bildschirmphänomen ist, eine Phantasie der Drehbuchautoren; aber vielleicht sagen Männer solche Dinge tatsächlich unter solchen Umständen. Woher soll Tony das wissen? Gibt es ein inneres Bedürfnis, zu warnen, zu prahlen, den Gegner einzuschüchtern, sich selbst anzustacheln? Dieu et mon droit. Noli me impune lacessit. Dulce et decorum estpropatria mori. Legdich nicht mit mir an. Herausforderungen, Schlachtrufe, Epitaphe. Autoaufkleber.
    Dieser Mann sagt: »Du bist Geschichte.«
    Tony hat eine ganze Sammlung dieser ferngesendeten Synonyme für den Tod. Ich mach dich zu Hackfleisch, ich hau dich in die Pfanne, ich putz dich weg , du bist nur noch ein Stück totes Fleisch. Es ist komisch, wie viele davon mit Essen zu tun haben, als sei es die größte, denkbare Demütigung, auf etwas Nahrhaftes reduziert zu werden. Aber Du bist Geschichte ist seit langem einer ihrer Lieblingsausdrücke. Er stellt eine so exakte Gleichung zwischen der Vergangenheit – jedem Teil der Vergangenheit, der ganzen Vergangenheit – und einer verdienten und schäbigen Vergessenheit her. Das ist Geschichte, verkünden junge Leute mit selbstgefälliger Arroganz. Das hier ist das Jetzt.
    Es folgt eine Nahaufnahme der glotzäugigen Angst auf dem Gesicht des Mannes, der bald Geschichte sein wird, wenn alles so weitergeht, wie es bisher gegangen ist, und dann ein Schnitt auf eine Nasenhöhle, die von angeblich heilkräftigen, orangefarbenen Bläschen mit Smile-Gesichtern durchblubbert wird.
    »Furchtbar«, sagt West. Tony weiß nicht, ob er die Polizeiserie oder den Nasenquerschnitt meint. Sie stellt den Ton ab, nimmt seine große Hand und umfaßt zwei seiner sojasoßenbekleckerten Finger. »West«, sagt sie. Was ist es, was sie ihm gerne vermitteln würde? Du bist so groß ? Nein. Du bist nicht mein Eigentum ? Nein. Bitte bleib bei mir?
    Manchmal bezeichnet er sie und sich als Mutt und Jeff. Ttum und Ffej, antwortet Tony. Laß das, sagt West. Wenn sie Spazierengehen, sehen sie immer aus, als würde einer von ihnen an der Leine geführt; aber wer? Ein Bär und sein Führer? Ein Pudel und sein Herrchen?
    »Willst du auch ein Bier?« fragt West.
    »Einen Apfelsaft«, sagt Tony. »Bitte.« Und West schraubt sich von seinem Kissen hoch und trabt in Socken die Treppe hinunter.
    Tony bleibt sitzen und sieht zu, wie ein neues Auto mit quietschenden Reifen, aber für sie lautlos, durch eine hügelige Wüste kurvt, die von Tafelbergen überragt wird. Gutes Gelände für einen Hinterhalt. Sie muß im Augenblick nur eine einzige Entscheidung treffen: Soll sie es West sagen oder nicht? Wie könnte sie es ausdrücken? Zenia lebt. Und was dann? Was würde West tun? Aus dem Haus laufen, ohne seinen Mantel, ohne seine Schuhe? Es wäre möglich. Die Köpfe großer Menschen sind zu weit vom Boden entfernt, ihr Schwerpunkt liegt zu hoch oben. Ein Schock, und sie kippen einfach um. Wie Zenia einmal gesagt hat, ist West ein Rohr im Wind.
    Einem plötzlichen Gefühl folgend, steht sie auf und schleicht auf Zehenspitzen zu Wests Schreibtisch, auf dem sein Telefon steht. Er besitzt nichts so Einleuchtendes wie einen Telefonblock, aber auf der Rückseite eines

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