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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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aufgestickten Glücksdrachen. Unter Chinesen hat sie das Gefühl, die richtige Größe zu haben, obwohl sie sich durchaus bewußt ist, wie einige von ihnen sie möglicherweise sehen. Als haarige, weiße, fremde Teufelin; obwohl sie nicht sehr haarig ist, was das angeht, und auch nicht sehr teuflisch. Fremd, ja. Fremd hier.
    Es ist fast wieder Zeit für ihren Haarschnitt, im Liliane’s, zwei Blocks weiter und um die Ecke herum. Sie machen dort immer viel Getue um sie: sie bewundern ihre kleinen Füße, oder tun zumindest so, ihre winzigen Hände, die wie Maulwurfspfötchen sind, ihren flachen Po, ihren herzförmigen Mund, der zwischen den schwellenden, wie von Bienen zerstochenen Lippen in den Modezeitschriften so veraltet wirkt. Sie sagen ihr, daß sie fast chinesisch aussieht.
    Aber nur fast. Fast, so hat sie sich immer gefühlt; annähernd. Zenia war niemals fast, nicht einmal in ihren verlogensten Zeiten. Ihre Täuschungen waren immer zutiefst verinnerlicht, und selbst ihre oberflächlichsten Tarnungen waren total.
     
    Tony geht und geht, die Spadina hinauf, vorbei an der alten Victory Burlesque, dem Sieges-Variete – welcher Sieg, wessen Sieg, fragt sie sich –, das jetzt mit Postern zugekleistert ist, auf denen Filme in chinesischer Sprache angekündigt werden, vorbei an der Grossman’s Tavern und quer über die College Street, wo die Scott-Mission christliche Suppe an immer mehr Menschen mit immer weniger Geld austeilt. Sie kann den ganzen Weg nach Hause zu Fuß gehen, sie hat heute keine Vorlesungen. Sie muß ihre Truppen umgruppieren, sie muß nachdenken, sie muß ihre Strategie planen. Aber wieviel Strategie kann man schon planen, wenn man nur so wenig hat, woran man sich halten kann? Zum Beispiel, wieso hat Zenia beschlossen, sich wieder zum Leben zu erwecken? Und wieso hat sie sich damals überhaupt die Mühe gemacht, sich in die Luft jagen zu lassen? Wahrscheinlich aus persönlichen Gründen; die nichts mit ihnen dreien zu tun haben. Oder mit ihnen zweien, mit ihr und West. Trotzdem ist es Pech, daß Zenia sie im Toxique gesehen hat.
    Vielleicht hat Zenia West in der Zwischenzeit völlig vergessen. Er ist nicht der Rede wert, bittet Tony im stillen. Ein ganz kleiner Fisch. Warum dir die Mühe machen? Aber Zenia liebt die Jagd. Sie liebt es, alles zu jagen. Sie genießt es.
    Stell dir deinen Feind vor , sagen die Experten. Versetz dich in seine Lage. Tu so, als seist du er. Lerne, seine Handlungen vorherzusehen. Bloß daß Zenia verdammt schwer auszurechnen ist. Wie bei dem alten Kinderspiel – Schere, Papier, Stein. Schere schneidet Papier, wird aber von Stein geschliffen. Der Trick besteht darin, zu wissen, was der Gegenspieler verbirgt, welche Faust oder böse Überraschung oder geheime Waffe er hinter seinem Rücken versteckt. Oder hinter ihrem.
     
    Die Sonne neigt sich dem Horizont entgegen, und Tony geht durch ihre stille Straße, schlurft raschelnd durch die Blätter der Ahorn- und Kastanienbäume, zurück zu ihrem Haus. Ihrer Festung. In diesem Licht wirkt das Haus nicht mehr massiv, solide, unbestreitbar. Es sieht provisorisch aus, als solle es demnächst verkauft werden, oder als wolle es jeden Augenblick die Segel setzen. Es wabert ein wenig, es schlingert in seiner Vertäuung. Ehe Tony die Tür aufschließt, fährt sie mit der Hand über die Ziegel, vergewissert sich, daß das Haus existiert. West hört sie kommen und ruft ihr eine Begrüßung zu. Tony überprüft ihr Gesicht im Spiegel in der Diele und verleiht ihm ihren, wie sie hofft, normalen Ausdruck.
    »Hör dir das an«, sagt West, als sie die Treppe in den zweiten Stock hinter sich gebracht hat.
    Tony hört es sich an: es ist wieder ein Geräusch, so ziemlich dasselbe – soweit sie das beurteilen kann – wie das von gestern. Balzende männliche Pinguine bringen Steine, die sie zwischen ihren gummistiefelähnlichen Füßen halten; West bringt Geräusche. »Es klingt wundervoll«, sagt sie. Es ist eine ihrer kleineren Lügen.
    West lächelt. Er weiß, daß sie nicht hören kann, was er hört, aber er mag sie dafür, daß sie es nicht sagt. Tony lächelt zurück, forscht ängstlich in seinem Gesicht. Sie kennt jede Falte, jede Erhebung und jede Wölbung. Soweit sie es beurteilen kann, ist alles wie immer.
     
    Keiner von ihnen hat Lust zu kochen, also geht West um die Ecke, um etwas vom japanischen Imbiß zu holen – gegrillten Aal, Gelbschwanz- und Lachs-Sushi –, und sie essen auf Sitzkissen vor dem Fernseher in Wests

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