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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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ganze Welt erobert und alle herumkommandiert, oder andere Spiele, in denen sie ein grausiges Ende findet. Oder sie ziehen Roz’ alte Unterröcke an und schleichen durch das Haus, drei Prinzessinnen auf einer Forschungsexpedition. Roz ist selig, die lauten Stimmen zu hören, die Streitereien; die Zwillinge waren in letzter Zeit viel zu still.
    Tony kocht Tee und altmodische Thunfisch-Aufläufe mit Käse überbacken und geraspelten Kartoffeln oben drauf, Roz hatte gedacht, diese Dinge seien längst aus der Welt verschwunden, und Charis massiert Roz’ Füße mit Minzetinktur und Rosenöl. Sie sagt, daß Roz eine sehr alte Seele ist, die Verbindungen zu Peru hat. Die Dinge, die Roz zugestoßen sind und die wie eine Tragödie aussehen, sind vergangene Leben, die ihrer Lösung entgegenstreben. Roz muß aus ihnen lernen, weil wir aus diesem Grund auf die Erde zurückkommen: um zu lernen. »Man hört im nächsten Leben nicht auf, die Person zu sein, die man war«, sagt sie, »man fügt ihr nur Neues hinzu.« Roz beißt sich auf die Zunge, weil sie allmählich wieder sie selbst ist und das alles für Durchfall hält, aber sie würde nicht im Traum daran denken, das zu sagen, weil Charis es nur gut meint und Bäder für sie einlaufen läßt, in denen Zimtstangen und Blätter herumschwimmen, so als wollte sie eine Hühnerbrühe aus Roz machen.
    »Ihr verwöhnt mich«, sagt Roz. Jetzt, wo sie sich ein bißchen besser fühlt, ist ihr das Getue, das um sie gemacht wird, ein wenig peinlich. Gewöhnlich ist sie diejenige, die diese Dinge tut, das Glucken, das Sorgen. Sie ist es nicht gewöhnt, das entgegenzunehmen.
    »Du hast eine anstrengende Reise hinter dir«, sagt Charis mit ihrer sanften Stimme. »Du hast einen großen Teil deiner Energien verbraucht. Jetzt kannst du loslassen.«
    »Das ist nicht so leicht«, sagt Roz.
    »Ich weiß«, sagt Charis. »Aber du hattest noch nie etwas für Sachen übrig, die leicht sind.« Mit nie meint sie: nicht in den letzten viertausend Jahren. Genauso alt kommt Roz sich vor.

49
    Roz stellt fest, daß sie im Keller auf dem Fußboden sitzt, im Licht der einen nackten Glühbirne, die von der Decke hängt, einen leeren Teller neben sich, ein aufgeschlagenes Kinderbuch auf den Knien. Sie dreht ihren Ehering, den Ring, der einst bedeutete, daß sie verheiratet war, und der sie jetzt mit seinem Gewicht zu Boden zieht, sie dreht ihn an ihrem Finger, als wolle sie ihn losschrauben, oder als rechne sie damit, daß aus dem Nichts ein Geist auftaucht und alles für sie regelt. Die Stücke wieder zusammensetzt, alles wieder in Ordnung bringt: Mitch lebendig in ihr Bett zurückbringt, wo sie ihn finden wird, wenn sie gleich nach oben geht - frisch gewaschen und duftend und mit geputzten Zähnen, und gerissen, bis zum Rand vollgestopft mit liebevollen Lügen, Lügen, die sie durchschaut, Lügen, mit denen sie umgehen kann, zwanzig Jahre jünger. Eine zweite Chance. Jetzt, wo sie weiß, was sie tun muß, wird sie es besser machen. Sag mir, Gott , wieso gibt es für uns keine Proben ?
    Wie lange sitzt sie schon hier unten und jammert im trüben Licht vor sich hin? Sie muß nach oben gehen und sich der Realität stellen, wie immer sie auch aussehen mag. Sie muß sich zusammenreißen.
    Sie tut dies, indem sie die Taschen ihres Morgenmantels abklopft, in denen sie früher, bevor die Zwillinge sie auf die schwarze Liste setzten, immer Papiertaschentücher mit sich herumtrug. Als sie keins findet, trocknet sie sich die Augen mit ihrem orangenen Ärmel, auf dem ein schwarzer Wimperntuschefleck zurückbleibt, und wischt sich dann die Nase am anderen Ärmel ab. Na und? Wer kann sie schon sehen, außer Gott? Den Nonnen zufolge hatte er eine Schwäche für Baumwolltaschentücher. Gott, sagt sie zu ihm, wenn du nicht gewollt hättest, daß wir uns die Nase am Ärmel abwischen, hättest du uns keine Ärmel gegeben. Oder Nasen. Oder Tränen, wo wir schon einmal dabei sind. Oder Erinnerungen, oder Schmerzen.
    Sie stellt die Kinderbücher ins Regal zurück. Sie sollte sie einer wohltätigen Organisation spenden, oder vielleicht leihen – sie auf die Welt loslassen, damit sie irgendeinem anderen Kind den Kopf verdrehen können, während sie auf ihre Enkelkinder wartet. Was für Enkelkinder? Träum nur weiter, Roz. Die Zwillinge sind zu jung und werden, wenn sie groß sind, wahrscheinlich Rennfahrerinnen werden oder auf- und davongehen, um bei irgendwelchen Gorillas zu leben, irgendwas Furchtloses und Vermehrungsfreies

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