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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Tierschützer ihr die Tür einrannten oder irgendwelche christliche Spinner ihr die Fenster vollsprühten. Sie hatte die Idee, mit den Kristallen anzufangen und den Laden Radiance zu nennen.
    Es war der Name, der Charis anzog. Zuerst war sie einfach nur eine Kundin: sie kam wegen der Kräutertees. Aber dann wurde die Stelle als Verkäuferin frei, und da sie ihren Job im Archiv des Ministeriums für Bergwerke und Rohstoffe satt hatte – zu unpersönlich, zuviel Druck, und außerdem war sie nicht besonders gut bewarb sie sich. Shanita nahm sie, weil sie genau richtig aussah, sagte sie zumindest.
    »Du siehst nicht so aus, als würdest du die Kunden belästigen«, sagte Shanita. »Sie lassen sich nicht gerne drängeln. Sie lassen sich hier drin gerne einfach ein bißchen treiben, verstehst du?«
    Charis verstand. Sie läßt sich selbst gerne einfach ein bißchen im Radiance treiben. Sie mag den Geruch, und sie mag die Dinge, die es hier gibt. Manchmal macht sie mit Shanita Tauschgeschäfte, Waren - zum Einkaufspreis – statt Bezahlung, sehr zu Augustas Verzweiflung. Noch mehr von diesem Schund, sagt sie. Sie versteht nicht, wie viele japanische Lackschalen und Kassetten mit Eistaucherrufen Charis denn noch braucht. Charis sagt, es hat nichts mit brauchen zu tun, nicht materiell jedenfalls. Es ist ein spirituelles Brauchen. Im Augenblick hat sie ein Auge auf eine wunderschöne Amethyst- Druse aus Neuschottland geworfen. Sie wird sie in ihrem Schlafzimmer aufbewahren, um böse Träume abzuwehren.
    Sie kann sich Augustas Reaktion auf diese Druse vorstellen. Moml Was hat dieser Felsbrocken in deinem Bett zu suchen? Sie kann sich Tonys interessierte Skepsis vorstellen – Funktioniert es wirklich? – und Roz’ mütterliche Nachsicht – Liebchen, wenn es dich glücklich macht, bin ich hundertprozentig dafür} Das war, solange sie lebt, ihr Problem: daß sie sich die Reaktionen anderer Leute vorstellen kann. Sie kann es nur allzu gut. Sie kann sich die Reaktionen von allen vorstellen – ihre Reaktionen, ihre Gefühle, ihre Kritik, ihre Forderungen –, aber umgekehrt tun die anderen das nie. Vielleicht können sie es nicht. Vielleicht fehlt ihnen das Talent dafür, falls es denn eines ist.
     
    Charis verläßt die Anlegestelle und geht erst die King und dann die Queen hinauf, atmet die schwülstige Stadtluft ein, die so anders ist als die Luft auf der Insel. Diese Luft hier ist voll von Chemikalien und voll von Atem, dem Atem anderer Menschen. Es gibt zu viele Menschen, die in dieser Stadt atmen. Es gibt zu viele Menschen, die auf diesem Planeten atmen; vielleicht wäre es von Vorteil, wenn ein paar Millionen von ihnen den Übergang machen würden. Aber das ist ein erschreckend selbstsüchtiger Gedanke, also hört Charis auf, ihn zu denken. Statt dessen denkt sie über das Teilen nach. Jedes einzelne Molekül, das Charis in ihre Lungen aufnimmt, wurde in die Lungen ungezählter Tausender anderer Menschen hineingesaugt und wieder ausgestoßen, viele Male. Und wo sie schon einmal dabei ist, jedes einzelne Molekül ihres Körpers war einst Teil des Körpers eines anderen Menschen, oder vieler anderer Menschen, bis weit in die Vergangenheit hinein, und immer weiter, am Menschen vorbei, bis hin zu den Dinosauriern, bis hin zum ersten Plankton. Um die Vegetation erst gar nicht zu erwähnen. Wir alle sind Teil von allen anderen, sinniert sie. Wir alle sind Teil von allem.
    Es ist eine wahrhaft kosmische Einsicht, solange es einem gelingt, sie aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Aber dann kommt Charis ein unerfreulicher Gedanke. Wenn jeder ein Teil von jedem ist, dann ist sie selbst ein Teil von Zenia. Oder umgekehrt. Vielleicht ist sie gerade dabei, Zenia einzuatmen. Den Teil von Zenia, der in Rauch aufging. Nicht ihren Astralleib, der immer noch in der Nähe der Erde herumschwebt, und auch nicht ihre Asche, die in der Blechbüchse unter dem Maulbeerbaum gut aufgehoben ist.
    Vielleicht ist es das, was Zenia will! Vielleicht läßt dieser Teilzustand ihr keine Ruhe, vielleicht stört es sie, daß ein Teil ihrer Energie in diesem Kanister ist, während der andere in der Gegend herumschwirrt. Vielleicht will sie herausgelassen werden. Vielleicht sollte Charis eines Nachts mit einer Schaufel und einem Dosenöffner auf den Friedhof gehen und sie ausgraben und verstreuen. Sie mit dem Universum vereinen. Das wäre ein mitfühlender Akt.
     
    Um zehn vor zehn steht sie vor dem Radiance, ausnahmsweise einmal früh dran, läßt

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