Die Räuberbraut
sich mit ihrem Schlüssel ein und zieht einen der malven- und aquafarbenen Kittel an, die Shanita für sie beide entworfen hat, damit die Kunden sehen, daß sie keine Kunden sind.
Shanita ist schon da. »Hi, Charis, wie geht’s?« ruft sie aus dem Lager hinten. Es ist Shanita, die sich um die Bestellungen kümmert. Sie hat ein natürliches Gespür dafür; sie besucht kunsthandwerkliche Ausstellungen und fährt in die entlegensten Ecken und Winkel und findet Sachen, wundervolle Sachen, die es in keinem anderen Laden der Stadt zu kaufen gibt. Sie scheint im voraus zu wissen, was die Leute wollen werden.
Charis bewundert Shanita sehr. Shanita ist klug und praktisch, und dazu hat sie übersinnliche Fähigkeiten. Außerdem ist sie stark, und eine der schönsten Frauen, die Charis je gesehen hat, obwohl sie nicht mehr jung ist – sie muß weit über vierzig sein. Sie weigert sich, ihr Alter zu verraten – das eine Mal, daß Charis sie gefragt hat, hat sie nur gelacht und gesagt, Alter existiere nur im Geist, und ihrem Geist zufolge sei sie zweitausend Jahre alt –, aber sie bekommt allmählich eine weiße Haarsträhne. Das ist noch etwas, was Charis bewundert: Shanita färbt sich nicht die Haare.
Die Haare selbst sind schwarz, weder lockig noch kraus, sondern wellig, dicht und glänzend und üppig, wie weichfließende Karamelmasse oder Lava. Wie heißes schwarzes Glas. Shanita dreht sie zusammen und steckt sie hier und da auf ihrem Kopf fest: manchmal oben, manchmal auf der Seite. Oder sie läßt sie in einer einzigen dicken Strähne über ihren Rücken fallen. Sie hat breite Wangenknochen, eine schmale Nase mit hoher Brücke, volle Lippen und große, dunkel bewimperte Augen, die eine verblüffende Schattierung haben und von braun zu grün wechseln, je nachdem, welche Farbe sie gerade trägt. Ihre Haut ist glatt und faltenlos, von unbestimmbarer Farbe, weder schwarz noch braun noch gelb. Ein dunkles Beige; aber beige ist ein nichtssagendes Wort. Kastanie trifft es auch nicht, auch nicht gebranntes Sienna, auch nicht Umbra. Es ist ein anderes Wort.
Die Leute, die in den Laden kommen, fragen Shanita oft, wo sie herkommt. »Von hier«, sagt sie und lächelt ihr ultrastrahlendes Lächeln. »Ich wurde hier in dieser Stadt geboren!« Nach außen hin ist sie nett zu den Leuten, aber es ist eine Frage, die sie ziemlich ärgert.
»Ich glaube, sie meinen, wo deine Eltern herkommen«, sagt Charis, weil Kanadier für gewöhnlich das meinen, wenn sie diese Frage stellen.
»Das meinen sie nicht«, sagt Shanita. »Sie meinen, wann ich wieder gehe.« Charis versteht nicht, wieso irgend jemand wollen sollte, daß Shanita geht, aber wenn sie das sagt, lacht Shanita. »Du«, sagt sie, »hast ein verdammt behütetes Leben geführt.« Dann erzählt sie Charis, wie unfreundlich weiße Straßenbahnschaffner sie behandeln. »›Gehn Siegefälligst nach hinten durch, sagen sie zu mir, als wär ich ein Stück Dreck!«
»Straßenbahnschaffner sind alle unfreundlich! Sie sagen zu jedem: Gehn Sie gefälligst nach hinten durch, sie sind unfreundlich zu mir}« sagt Charis, um Shanita zu trösten – obwohl sie nicht ganz ehrlich ist, es sind nur ein paar Straßenbahnschaffner, und sie selbst fährt nur selten mit der Straßenbahn –, und Shanita sieht sie voller Verachtung an, weil sie nicht wahrhaben will, daß fast alle, fast alle Weißen, rassistisch sind, und Charis fühlt sich schlecht. Manchmal stellt sie sich Shanita als unerschrockene Forschungsreisende vor, die sich ihren Weg durch den Dschungel bahnt. Der Dschungel besteht aus Menschen wie Charis.
Also verbietet sie sich, zu neugierig zu sein, zu viele Fragen über Shanita zu stellen, über ihren Hintergrund, darüber, wo sie herkommt. Und Shanita nimmt sie auf den Arm; sie läßt Andeutungen fallen, sie verändert ihre Geschichte. Manchmal ist sie zum Teil chinesisch und zum Teil schwarz, mit einer karibischen Großmutter; sie beherrscht den Dialekt, also ist vielleicht wirklich etwas an der Geschichte dran. Vielleicht ist das die Großmutter, die Erde gegessen hat; aber es gibt auch andere Großmütter, eine aus den Staaten, und eine aus Halifax, und eine aus Pakistan, und eine aus New Mexico, und sogar eine aus Schottland. Vielleicht sind es Stiefgroßmutter, oder vielleicht ist Shanita häufig umgezogen. Charis kann sie einfach nicht auseinanderhalten: Shanita hat mehr Großmütter als jeder andere, den sie kennt. Manchmal ist sie zum Teil eine Ojibwa, oder zum Teil Maya, und
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