Die Räuberbraut
liegt es an der Ozonschicht. Unbekannte Energien kommen durch.
Sie hat zwanzig Minuten Zeit, um zur Fähre zu gehen. Mehr als genug. Sie verläßt das Haus ganz selbstverständlich durch die Hintertür; die Vordertür ist zugenagelt und der Isolierung wegen mit Plastikfolie verhängt, und davor hängt eine handgewebte indische Tagesdecke mit einem Paisleymuster in Grün und Blau. Die Isolierung ist für den Winter gedacht. Im Sommer nimmt Charis sie herunter, bloß daß sie letzten Sommer nicht dazu gekommen ist. Hinter der Plastikfolie liegen immer eine Menge toter Fliegen herum, für die sie nicht besonders viel übrig hat.
Die Luft auf der Insel ist so gut. Vergleichsweise, heißt das. Wenigstens geht fast immer ein Wind. Sie bleibt vor ihrer Hintertür stehen, atmet die vergleichsweise gute Luft ein und spürt, wie die Schärfe ihre Lungen füllt. Ihr Gemüsegarten schiebt immer noch neuen Mangold aus der Erde, es gibt noch Karotten und grüne Tomaten; eine rostig-orangefarbene Chrysantheme blüht in einer Ecke. Der Boden ist fruchtbar; er enthält immer noch Spuren von Hühnermist, und jedes Frühjahr und jeden Herbst gräbt sie Kompost von ihrem Komposthaufen unter. Es ist fast wieder an der Zeit dafür, jetzt, bevor der erste Frost kommt.
Sie liebt ihren Garten; sie liebt es, auf dem Boden zu knien, beide Hände tief in der Erde, zwischen den Wurzeln herumzuwühlen, während die Regenwürmer vor ihren tastenden Fingern davonschlüpfen, eingehüllt in den Geruch nach feuchter Erde und langsamer Verwitterung, und an nichts zu denken. Den Dingen beim Wachsen zu helfen. Sie benutzt niemals Handschuhe, sehr zu Augustas Verzweiflung.
Shanita sagt, ihre Großmutter hatte die Gewohnheit, Erde zu essen, jedes Frühjahr eine Handvoll oder zwei. Sie sagte, Erde sei gut für einen. (Obwohl Charis immer noch nicht dahintergekommen ist, welche Großmutter genau Shanita meint: Shanita scheint mehr als zwei zu haben.) Aber Erde essen gehört zu den Dingen, die auch Charis’ eigene Großmutter hätte tun können, denn diese Großmutter, so schmutzig und beängstigend sie auch war, war eine Frau, die über diese Dinge Bescheid wußte. Charis ist noch nicht dazu gekommen, es selbst zu versuchen, aber sie arbeitet daraufhin.
Vor dem Haus gibt es noch mehr, was getan werden müßte. Im letzten Frühjahr hat sie den Rasen umgegraben und versucht, eine Art englischen Cottagegarten anzulegen, was, wie sie fand, gut zum Haus mit seiner weißen Holzverkleidung und seinem leicht verwitterten Aussehen gepaßt hätte; aber sie hat zu viele verschiedene Sorten auf einmal gepflanzt und sie nicht ausgedünnt, und nicht soviel Unkraut gejätet, wie sie hätte sollen, und das Ergebnis war eine Art Wildwuchs. Größtenteils haben die Löwenmäulchen gewonnen; sie blühen immer noch, einige der hohen Stiele sind umgeknickt (sie hätte sie festbinden sollen), und langbeinige Schößlinge sprießen aus ihnen hervor. Nächstes Jahr wird sie die hohen Pflanzen nach hinten tun und sich auf weniger Farben beschränken.
Das heißt, wenn es ein nächstes Jahr gibt. Nächstes Jahr hat sie vielleicht nicht einmal mehr ein Haus. Der Krieg der Stadt gegen die Insel ist noch längst nicht vorbei. Die Stadt will alle Häuser abreißen, alles einebnen, einen Park daraus machen. Eine ganze Reihe von Häusern sind auf diese Weise verschwunden, vor Jahren, bevor die Leute anfingen, sich auf die Hinterbeine zu stellen. Charis glaubt, daß Neid dahintersteckt; wenn die Städter nicht selbst hier leben können, soll auch niemand sonst es dürfen. Jedenfalls sind die Grundstückspreise deswegen relativ niedrig geblieben. Wenn das nicht gewesen wäre, wo wäre Charis dann?
Und wenn niemand auf der Insel lebte, wer wäre dann je in der Lage, die Stadt aus der Ferne zu betrachten, so wie Charis es jeden Morgen bei Sonnenaufgang tut, und sie so schön zu finden? Ohne diese Vision ihrer selbst, ihrer Schönheit und ihrer Möglichkeiten, würde die Stadt zerfallen, zerbrechen, zu nutzlosem Schutt und Geröll werden. Sie verdankt ihren Fortbestand nur dem Glauben; dem Glauben und der Meditation, der Meditation von Menschen wie ihr. Das weiß Charis mit absoluter Sicherheit, bloß hat sie es bis jetzt nicht so ausdrücken können, nicht genau, in ihren häufigen Briefen an die Stadträte, von denen sie nur bei zweien dazu gekommen ist, sie tatsächlich abzuschicken. Aber allein das Niederschreiben hilft. Es strahlt die Botschaft aus, die in die Köpfe der
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