Die Räuberbraut
Wirtschaftswissenschaften zu studieren. »Eine Frau muß darauf vorbereitet sein, ihren eigenen Weg zu gehen«, sagt sie. »Zu viele arbeitsscheue Männer.« Sie ist sogar mit dem Möbelalbum einverstanden, das Charis so habsüchtig findet, so materialistisch. »Das Mädchen weiß, was es will«, sagt Shanita und schenkt ihnen noch einen Tee ein. »Ich wär froh, wenn ich in ihrem Alter auch so gewesen wär. Dann hätte ich mir eine Menge Ärger erspart.« Sie hat zwei eigene Töchter, und zwei Söhne, alle schon erwachsen. Sie ist sogar schon Großmutter; aber sie spricht nicht gern über diesen Teil ihres Lebens. Inzwischen weiß sie viel über Charis, während Charis fast nichts über sie weiß.
»Mein Pendel hat sich heute morgen so komisch benommen«, sagt Charis, um vom Thema Augusta abzulenken.
»Wie, komisch?« fragt Shanita. Die Pendel werden im Laden verkauft, fünf verschiedene Modelle, und Shanita ist Expertin im Interpretieren ihrer Bewegungen.
»Es blieb einfach stehen«, sagt Charis. »Ganz still, genau über meinem Kopf.«
»Das ist eine schwerwiegende Mitteilung«, sagt Shanita. »Etwas wirklich Plötzliches, etwas, womit du nicht rechnest. Vielleicht ist es ein Wesen, das versucht, dir eine Nachricht zukommen zu lassen. Heute ist der erste Tag im Zeichen des Skorpions, richtig? Es ist, als würde das Pendel den Finger heben und sagen: Paß auf!«
Charis bekommt es mit der Angst zu tun: könnte es um Augusta gehen – ein Unfall? Es ist das erste, was ihr einfällt, also fragt sie.
»Nein, den Eindruck hab ich nicht«, sagt Shanita beruhigend. »Aber sehn wir lieber nach.« Sie holt die Tarotkarten unter der Theke hervor, das Marseiller Blatt, mit dem sie am liebsten arbeitet, und Charis mischt und hebt ab.
»Der Turm«, sagt Shanita. »Plötzlich, wie ich eben gesagt habe. Die Priesterin. Eine Eröffnung, etwas Verborgenes wird aufgedeckt. Der Ritter der Schwerter, hm, das könnte interessant werden! Die Ritter bringen immer Nachrichten. Jetzt, die Kaiserin. Eine starke Frau! Aber nicht du selbst. Jemand anderes. Augusta auch nicht, nein. Die Kaiserin ist kein junges Mädchen.«
»Vielleicht bist du es«, sagt Charis, und Shanita lacht und sagt: »Stark! Ich bin ein gebrochenes Schilfrohr!« Sie deckt die nächste Karte auf. »Der Tod«, sagt sie. »Eine Veränderung. Könnte eine Erneuerung sein.« Sie legt eine Karte quer darüber. »Oh. Der Mond.«
Der Mond, mit den bellenden Hunden, dem Teich, dem lauernden Skorpion. Genau in diesem Augenblick geht die Türklingel, und eine Kundin kommt herein und bittet Charis um zwei Exemplare von Querbeet, eins für sich selbst, eins als Geschenk. Charis bestätigt ihr, daß es ein sehr nützliches Büchlein ist, und gar nicht mal so teuer, und daß die handgemalten Illustrationen süß sind, und stimmt ihr zu, daß, ja, Shanita wirklich phantastisch aussieht, aber daß sie, nein, nirgends herkommt, nur aus dem braven alten Toronto, und nimmt das Geld und packt die Bücher ein, in Gedanken ganz woanders. Der Mond, denkt sie. Illusion.
10
Gegen Mittag zieht Charis ihren geblümten Kittel aus und verabschiedet sich von Shanita – heute, Dienstag, ist ihr halber Tag, deshalb wird sie nach dem Essen nicht zurückkommen – und tritt auf die Straße und versucht, nicht zuviel zu atmen. Sie hat schon Fahrradkuriere mit weißen Atemschutzmasken aus Papier gesehen, wie Krankenschwestern sie haben. Es scheint ein neuer Trend zu sein, denkt sie; vielleicht sollten sie welche für den Laden bestellen, aber farbig, mit einem hübschen Muster.
Sobald sie das Toxique betritt, fängt ihr Kopf an zu knistern. Als ob ein Gewitter im Anzug wäre, oder irgendwo ein Draht lose, ein Wackelkontakt. Ionen bombardieren sie, kleine Wellen bedrohlicher Energie. Sie streicht sich mit der Hand über die Stirn und schüttelt dann die Finger aus, um die Störung loszuwerden.
Sie verrenkt sich den Hals, um die Ursache der Störung zu ergründen. Manchmal sind es die Leute, die hierherkommen, um auf der Treppe, die zu den Toiletten hinunterführt, zu dealen, aber im Augenblick scheint keiner von ihnen in der Nähe zu sein. Eine Kellnerin kommt auf sie zu, und Charis bittet um den Tisch in der Ecke, in der Nähe des Spiegels. Spiegel sind Deflektoren.
Das Toxique ist Roz’ neueste Entdeckung. Roz entdeckt ständig neue Sachen, vor allem Restaurants. Sie liebt es, in Läden zu essen, in denen niemand aus ihrem Büro je essen würde, sie liebt es, von Leuten umgeben zu sein,
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