Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
– ein anderer ihrer Pläne nicht geklappt hatte, etwas, was mit einem Mann zu tun hatte. Es gibt Männer in Augustas Leben, ahnt Charis; obwohl sie ihr nicht gezeigt werden, obwohl sie ihr nicht vorgestellt werden. Wahrscheinlich studieren auch sie an Augustas College, angehende Unternehmer, die einen einzigen Blick auf Charis und ihr noch nicht voll durchorganisiertes Haus werfen und auf der Stelle die Flucht ergreifen würden. Wahrscheinlich schwindelt Augusta ihnen etwas vor. Wahrscheinlich erzählt sie ihnen, ihre Mutter wäre krank, oder in Florida, oder sonstwas.
    Aber noch ist Augusta nicht völlig unter einer Lackschicht verschwunden; noch hat sie Augenblicke sanfter Schuldgefühle. Bei jenem letzten Mal hatte sie als eine Art Versöhnungsgeschenk ein Kleiebrot mitgebracht und ein paar getrocknete Feigen. Charis hatte sie besonders herzlich an sich gedrückt und ihr Zucchinibrötchen und eine Wärmflasche für ihr Bett gemacht, so wie früher, als Augusta noch klein war, weil sie so dankbar war, daß Augusta nicht Zenia war.
     
    Trotzdem ist es fast so, als wäre Zenia tatsächlich hier gewesen. Als wäre sie gekommen und wieder gegangen, ohne zu bekommen, was sie wollte. Als werde sie zurückkommen.
    Wenn sie das nächste Mal Gestalt annimmt, wird Charis sie erwarten. Es muß etwas geben, was Zenia zu sagen hat. Das heißt, nein. Vielleicht ist es Charis, die etwas zu sagen hat; vielleicht ist es das, was Zenia auf dieser Erde festhält. Denn Zenia ist da, sie ist irgendwo in der Nähe, das hat Charis seit dieser Beerdigung immer gewußt. Sie hat sich den Kanister mit Zenias Asche angesehen und es gewußt. Die Asche mochte in diesem Kanister sein, aber Asche war keine Person. Zenia selbst war weder in diesem Kanister, noch war sie im Licht. Zenia schwirrte irgendwo herum, schwirrte in der Atmosphäre herum, aber an die Welt der äußeren Erscheinungen gefesselt, und das ist allein Charis’ Schuld. Es ist Charis, die sie hier haben muß, es ist Charis, die sie nicht loslassen will.
    Zenia wird kommen, ihr weißes Gesicht wird in dem gläsernen Viereck der Tür auftauchen, und Charis wird die Tür öffnen. Komm rein , wird sie sagen, weil die Toten eine Schwelle nur dann überschreiten können, wenn sie dazu aufgefordert werden. Komm rein, wird sie sagen, und ihren eigenen Körper aufs Spiel setzen, weil Zenia auf der Suche nach einem neuen Kleid aus Fleisch sein wird. Komm rein, wird sie sagen, zum dritten und entscheidenden Mal, und Zenia wird durch die Tür schweben, mit Augen tief wie Höhlen, mit Haaren wie kalter Rauch. Sie wird in der Küche stehen, und das Licht wird dunkler werden, und Charis wird Angst haben.
    Aber sie wird nicht klein beigeben, sie wird nicht zurückweichen, nicht dieses Mal. Was haben sie mit Billy gemacht? wird sie Zenia fragen. Zenia ist die einzige, die es weiß.
     
    Charis geht wieder nach oben, zieht sich für die Arbeit an und versucht, nicht über ihre Schulter nach hinten zu sehen. Manchmal denkt sie, daß es vielleicht doch keine so besonders gute Idee ist, allein zu leben. Aber meistens gefällt es ihr. Sie kann tun, was sie will, sie kann sein, wie sie ist, und wenn sie Selbstgespräche führt, ist niemand da, der sie anstarrt. Niemand, der sich über die Staubflusen beschwert, außer vielleicht Augusta, die den Besen hervorholt und sie wegfegt.
    Sie tritt auf eine weitere Reißzwecke, und diese tut weher als die von vorhin, also zieht sie ihre Schuhe an. Als sie fertig angezogen ist, begibt sie sich auf die Suche nach ihrer Lesebrille, weil sie sie brauchen wird, um bei der Arbeit Rechnungen zu schreiben, und um die Speisekarte im Toxique lesen zu können.
    Sie freut sich auf dieses Essen. Sie zwingt sich, sich darauf zu freuen, obwohl etwas an ihr nagt, eine Ahnung... ein flaues Gefühl. Nichts Gewaltsames, keine Explosion, kein Feuer. Etwas anderes. Sie hat diese Gefühle oft, aber da die Hälfte von ihnen sich nie bewahrheiten, sind sie nicht verläßlich. Shanita sagt, es liegt daran, daß sie ein Salomonskreuz auf ihrer Handfläche hat, aber es ist ausgefranst; zu viele dünne Haarlinien. »Du bekommst eine Menge Sender rein«, sagt Shanita. »Statische Geräusche aus dem Kosmos.«
    Sie findet die Lesebrille unter dem Teewärmer in der Küche; sie kann sich nicht erinnern, sie dorthin gelegt zu haben. Gegenstände haben ein eigenes Leben, und die, die sich in ihrem Haus befinden, wandern nachts herum. Seit neuestem tun sie das öfter als sonst. Wahrscheinlich

Weitere Kostenlose Bücher