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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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die Kleider tragen, die sie selbst niemals tragen würde. Sie bildet sich gerne ein, daß sie auf diese Weise am wirklichen Leben teilnimmt, wobei wirklich ärmer als sie selbst bedeutet. Das ist zumindest der Eindruck, den Charis manchmal hat. Sie hat versucht, Roz klarzumachen, daß alles Leben gleichermaßen wirklich ist, aber Roz scheint nicht zu verstehen, was sie meint; vielleicht hat Charis sich nicht klar genug ausgedrückt.
    Sie wirft einen Blick auf die leopardengemusterte Strumpfhose der Kellnerin, zieht die Nase kraus – die Sachen sind ihr zu hart – ermahnt sich selbst, sich nicht als Richterin aufzuspielen, bestellt eine Flasche Evian und eine Flasche Weißwein und richtet sich aufs Warten ein. Sie schlägt die Speisekarte auf, kneift die Augen zusammen, sucht in ihrer Tasche nach ihrer Lesebrille, kann sie nicht finden – hat sie sie im Laden vergessen? – und entdeckt sie schließlich auf ihrem Kopf. Sie muß so hierher gekommen sein. Sie setzt die Brille auf die Nase und überfliegt die Tageskarte. Wenigstens ist immer etwas Vegetarisches dabei; obwohl man natürlich nicht weiß, wo das Gemüse herkommt. Wahrscheinlich von einer künstlich bewässerten, überdüngten, vollautomatisierten Großfarm.
    Die Wahrheit ist, daß sie das Toxique nicht besonders mag. Zum Teil ist der Name daran schuld: sie findet, daß es schlecht für die Nervenzellen ist, sich im Umfeld eines derart giftigen Namens aufzuhalten. Und die Aufmachung der Kellner und Kellnerinnen, der Bedienung, erinnert sie an die Sachen, die früher im Okkult verkauft wurden. Jeden Augenblick ist mit Gumminarben und Theaterblut zu rechnen. Aber sie ist bereit, Roz zuliebe ab und zu hier zu essen.
    Und was Tony angeht, wer weiß schon, was sie über diesen Laden denkt? Tony ist für Charis schwer einzuschätzen; das war schon immer so, schon als sie sich kennenlernten, damals, in den McClung Hall-Tagen. Aber wahrscheinlich würde Tony genau dieselbe Haltung an den Tag legen, wenn sie sich im King Eddy oder in einem McDonald’s treffen würden: eine Art großäugiges, ungläubiges Registrieren, wie bei einem Marsbewohner auf einer Urlaubsreise durch die Zeit. Damit beschäftigt, Probeexemplare zu sammeln. Sie gefrierzutrocknen. Sie in beschriftete Schachteln zu stecken. Ohne Raum zu lassen, Raum für das Unsagbare.
    Nicht, daß sie Tony nicht gern hätte. Nein, falsch. Es gibt Zeiten, in denen sie Tony überhaupt nicht gern hat. Tony kann zu viele Worte machen, sie kann an ihren Nerven zerren, sie kann ihr elektrisches Feld gegen den Strich bürsten. Aber trotzdem liebt sie Tony. Tony ist so ruhig, so klug, steht mit beiden Beinen so fest auf der Erde. Wenn Charis je wieder Stimmen hören sollte, die sagen, daß sie sich die Pulsadern aufschneiden soll, wäre Tony diejenige, die sie anrufen würde, damit sie mit der Fähre zu ihr auf die Insel kommt und sich um sie kümmert, sie entschärft, ihr sagt, daß sie kein Idiot sein soll. Tony würde wissen, was zu tun wäre, Schritt für Schritt, eins nach dem anderen, in der richtigen Reihenfolge.
    Roz wäre nicht die erste, die sie anrufen würde, weil Roz ausrasten würde, weinen, sympathisieren, ihr zustimmen würde, daß alles einfach unerträglich ist, und dann würde sie auch noch die Fähre verpassen. Aber hinterher, wenn sie sich wieder sicher fühlte, würde sie zu Roz gehen, um sich in die Arme nehmen zu lassen.
    Roz und Tony kommen zusammen herein, und Charis winkt ihnen zu, und dann folgt der Wirbel, der immer entsteht, wenn Roz ein Restaurant betritt, und die beiden setzen sich, und Roz zündet sich eine Zigarette an, und sie fangen sofort ein Gespräch an. Charis klinkt sich aus, weil sie sich nicht sonderlich für das interessiert, was die beiden sagen, und läßt sich einfach von ihrer Gegenwart überfluten. Ihre Gegenwart ist für sie wichtiger als das, was aus ihren Mündern kommt. Worte sind so oft wie Fenstervorhänge, ein dekorativer Schutzschirm, um die Nachbarn auf Distanz zu halten. Aber Auren lügen nicht. Charis sieht diese Auren nicht mehr so oft wie früher. Als sie noch klein war, als sie noch Karen war, sah sie sie mühelos; jetzt nur noch in Augenblicken großer Belastung. Aber sie kann sie spüren, so wie Blinde Farben mit den Fingerspitzen erspüren können.
    Was sie heute um Tony herum spürt, ist Kühle. Eine transparente Kühle. Tony erinnert sie an eine Schneeflocke, so winzig und hell und rein, aber kalt; ein Gehirn wie ein Eiswürfel, klar und quadratisch;

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