Die Räuberbraut
oder wie Kristallglas, hart und scharf. Oder doch wie Eis, weil es schmelzen kann. In den Theateraufführungen in der Schule wäre Tony eine Schneeflocke gewesen: eins der kleineren Kinder, zu klein für eine Sprechrolle, aber alles verstehend. Charis selbst wurde meistens als Baum oder Strauch eingesetzt. Sie bekam nie eine Rolle, bei der sie sich hätte bewegen müssen, weil sie nur in irgendwelche Sachen hineingelaufen wäre, wenigstens sagten das die Lehrer. Sie verstanden nicht, daß ihre Ungeschicklichkeit keine normale Ungeschicklichkeit war, daß sie nichts mit mangelnder Koordination zu tun hatte. Sondern damit, daß sie nicht sicher war, wo die Ränder ihres Körpers endeten und der Rest der Welt begann.
Was wäre Roz gewesen? Charis stellt sich Roz’ Aura vor -so golden und vielfarbig und würzig – und ihre Art, die von Autorität spricht, aber auch diesen Unterton von Exil hat, und gibt ihr die Rolle eines der Heiligen Drei Könige, mit Brokat und Juwelen geschmückt, ein großzügiges Geschenk in den Händen. Aber hätte Roz je in so einem Stück mitgespielt? Ihr früheres Leben mit all diesen Nonnen und Rabbis ist so ein Durcheinander. Vielleicht hätte sie nicht gedurft.
Charis selbst hat das Christentum schon vor langer Zeit abgelegt. Zum einen ist die Bibel voller Fleisch: Tiere werden geopfert, Lämmer, Stiere, Tauben. Kain tat recht daran, die Früchte des Feldes als Opfer darzubringen. Gott tat unrecht daran, dieses Opfer zu verwerfen. Und es fließt zuviel Blut: die Leute in der Bibel müssen ständig ihr Blut vergießen, haben ständig Blut an den Händen, ständig wird ihr Blut von Hunden aufgeleckt. Es gibt zu viele Gemetzel, zu viel Leid, zu viele Tränen.
Früher dachte sie, einige der östlichen Religionen seien heiterer; eine Zeitlang war sie Buddhistin, bis sie merkte, wie viele Höllen die Buddhisten hatten. Die meisten Religionen sind so versessen auf Bestrafung.
Plötzlich stellt sie fest, daß sie ihr Essen halb aufgegessen hat, ohne es gemerkt zu haben. Sie hat den Salat mit Karotten und Hüttenkäse bestellt, eine kluge Wahl; nicht, daß sie sich daran erinnern könnte, ihn bestellt zu haben, aber manchmal ist es ganz nützlich, so einen automatischen Piloten zu haben, der sich um die Routineangelegenheiten kümmert. Einen Augenblick lang beobachtet sie, wie Roz ein Stück Baguette ißt; sie liebt es, Roz beim Essen von Baguette zuzusehen. Sie bricht es auf, vergräbt ihre Nase darin – Hm, ist das gut, ist das gut! –, bevor sie ihre festen, weißen Zähne hineinschlägt. Es ist wie ein kleines Gebet, ein kleiner Dank, das, was Roz mit Brot macht.
»Tony«, sagt Charis, »ich könnte etwas wirklich Schönes aus dem Garten hinter deinem Haus machen.«
Tony hat so wunderbar viel Platz hinter dem Haus, aber es gibt dort nichts als einen struppigen, kümmerlichen Rasen und ein paar kranke Bäume. Was Charis vorschwebt, wäre, die Bäume zu kurieren und eine Art Waldlandschaft zu schaffen, mit dreiblättrigem Zeichenwurz, Veilchen, Maiäpfeln und Weißwurz, Pflanzen, die im Schatten wachsen. Ein paar Farne. Nichts, was zuviel Unkrautjäten erfordert, weil man sich bei Tony nie darauf verlassen könnte, daß sie es auch wirklich tut. Es wäre etwas ganz Besonderes. Vielleicht ein Brunnen? Aber Tony antwortet nicht, und nach einem kurzen Augenblick begreift Charis, daß es daran liegt, daß sie nicht laut gesprochen hat. Manchmal fällt es ihr schwer, sich daran zu erinnern, ob sie etwas tatsächlich gesagt hat oder nicht. Augusta hat sich schon über diese Angewohnheit beschwert, unter anderem.
Sie klinkt sich wieder in die Unterhaltung ein: die beiden reden über irgendeinen Krieg. Charis wäre froh, sie würden nicht ständig vom Krieg anfangen, aber das tun sie in letzter Zeit oft. Er scheint in der Luft zu liegen, nachdem er längere Zeit so gut wie nicht vorhanden war. Es ist Roz, die damit anfängt; sie stellt Tony Fragen, weil sie den Leuten gerne Fragen über Dinge stellt, von denen sie annimmt, daß sie darüber Bescheid wissen. Bei einem anderen ihrer gemeinsamen Essen ging es die ganze Zeit um Völkermord, und Roz wollte über den Holocaust sprechen, und Tony stürzte sich in eine detaillierte Geschichte über Völkermorde quer durch die Jahrhunderte; Dschingis Khan, und dann die Katharer in Frankreich, und dann die Armenier, die von den Türken abgeschlachtet wurden, und dann die Iren und die Schotten, und was die Engländer mit ihnen machten, ein grausamer
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