Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
»Wie lange können Sie warten?«
    »Kein Problem«, sagt Roz.
    »Ich würde halten«, sagt Boyce.
    Was würde Roz ohne Boyce machen? Er wird für sie immer unersetzlicher. Manchmal denkt sie, er ist eine Art Ersatzsohn; andererseits könnte er auch eine Ersatztochter sein. Ein paar seltene Male hat sie ihn sogar dazu überreden können, mit ihr einkaufen zu gehen -  er hat so einen guten Geschmack-, obwohl sie den leisen Verdacht hat, daß er sie dabei dazu anstachelt, über das Maß hinauszuschießen, nur ein kleines bißchen, zu seiner eigenen versteckten, sardonischen Belustigung. Zum Beispiel war er auch in den Kauf des orangefarbenen Morgenmantels verwickelt.
    »Mrs. Andrews, es ist Zeit, ein bißchen loszulassen«, hatte er gesagt. »Carpe diem. «
    »Was bedeutet?« hatte Roz gefragt.
    »Nutze den Tag«, sagte Boyce. »Pflücke die Rose, eh sie verblüht. Obwohl ich persönlich es vorziehen würde, gepflückt zu werden.«
    Dies überraschte Roz, weil Boyce innerhalb der vier Wände des Büros nie so deutlich wird. Er muß natürlich ein anderes Leben haben – ein Abendleben, über das sie nicht das geringste weiß. Ein Privatleben, in das sie höflich, aber bestimmt nicht eingeladen wird.
    »Was haben Sie heute abend vor?« hat sie ihn unklugerweise einmal gefragt. (In der Hoffnung worauf? Daß er vielleicht mit ihr ins Kino oder sonstwohin gehen würde? Sie ist manchmal einsam, warum soll sie das nicht zugeben? Sie ist manchmal ganz erbärmlich und aushöhlend einsam, und dann ißt sie. Ißt und trinkt und raucht, um die Innenräume zu füllen. So gut sie kann.)
    »Ein paar von uns wollen zu den Clichettes«, sagte Boyce. »Sie wissen schon. Sie machen Playback-Parodien von Songs, sie ziehen sich an wie Frauen.«
    »Boyce«, sagte Roz. »Es sind Frauen.«
    »Sie wissen schon, was ich meine«, sagte Boyce.
    Wer waren ein paar von uns ? Eine Gruppe von Männern, aller Wahrscheinlichkeit nach. Junge Männer, schwule Männer. Sie sorgt sich um Boyces Gesundheit. Genauer gesagt, und wollen wir doch offen sein – könnte er vielleicht Aids haben? Er ist jung genug, um darum herumgekommen zu sein, um rechtzeitig genug davon gehört zu haben. Sie wußte nicht, wie sie danach fragen sollte, aber wie üblich erriet Boyce ihr Bedürfnis. Als sie, vielleicht einmal zu oft, eine Bemerkung über die Erkältung gemacht hatte, die er im Frühjahr nur so schwer wieder losgeworden war, hatte er gesagt: »Machen Sie sich nicht so viele Sorgen, Mrs. Andrews. Nicht kann mich Alter hinwelken, noch Erworbene Immunschwäche verblühen lassen. Dies kleine Schweinchen kann auf sich selbst aufpassen.« Was nur Teil einer Antwort ist, aber es ist die einzige, die sie bekommen wird.
    Nach dem Aktienüberblick gehen Roz und Boyce den diesmonatigen Stapel säuberlich getippter Bittgesuche durch, mit eingeprägten Briefköpfen und Unterschriften in echter Tinte (Roz testet sie immer, indem sie ihren Finger anleckt; es ist immer gut zu wissen, wer schummelt und wer auf der anderen Seite wirklich prätentiös ist). Dieser Brief hier möchte sie zur Ehrenpatronin machen, ein Titel, den sie haßt, denn wie kann man eine Patronin sein, ohne zu patronisieren, und außerdem müßte es Ehrenmatrone heißen, aber das wäre wieder etwas anderes. Der andere will ihr einen Tausender für eine Eintrittskarte für einen Wohltätigkeitsball aus der Tasche ziehen, dessen Erlös irgendwelchen Körperteilen zugute kommen soll. Herzen, Lungen und Lebern, Augen, Ohren und Nieren, alle haben ihre Befürworter; einige von ihnen, wohl wissend, daß die Torontonianer alles tun würden, um sich zu verkleiden, veranstalten sogar Kostümbälle. Roz persönlich wartet auf die Testikel-Gesellschaft und den dazugehörigen Eier-Tanz. Früher hat sie Maskenbälle geliebt; vielleicht würde es sie ein bißchen in Stimmung bringen, wenn sie als Skrotum gehen könnte. Eine andere Möglichkeit waren die Eierstockzysten; dafür würde sie die Mühe auf sich nehmen.
    Roz hat ihre eigene Liste. Sie spendet immer noch für die Mißhandelten Frauen , sie spendet immer noch für die Vergewaltigungsopfer , sie spendet immer noch für die Obdachlosen Mütter. Wieviel Mitgefühl ist genug? Das hat sie noch nie gewußt, und irgendwo muß auch mal Schluß sein, aber sie spendet immer noch für die Ausgesetzten Großmütter. Sie nimmt jedoch nicht mehr an formellen Festbanketten mit anschließendem Tanz teil. Sie kann schlecht allein hingehen, und es ist zu deprimierend, auf Teufel

Weitere Kostenlose Bücher