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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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mitbekommen hätte, aber es war Roz trotzdem ein unleugbares Vergnügen.
    Charis mißbilligte den Rolls; man sah es daran, wie sie auf dem Sitz saß, vornübergebeugt und nervös. Tony dagegen nahm ihn kaum zur Kenntnis. Ist das dein großes Auto? hatte sie nur gesagt. Tony ist so süß, wenn es um Autos geht, sie weiß alles über historische Sachen und Kanonen und so weiter, aber sie kann ein Auto nicht vom anderen unterscheiden. Dein großes Auto, dein anderes Auto, das sind ihre Kategorien. Wie in diesem schrecklichen Witz darüber, wie die Neufundländer Fische zählen: ein Fisch, zwei Fische, noch ein Fisch, noch ein Fisch... Roz weiß, daß sie nicht über solche Witze lachen sollte, es ist nicht fair, aber sie tut es trotzdem. Unter Freunden. Tut es den Neufundländern etwa weh, wenn sie Roz’ Blutdruck senken und dazu beitragen, daß sie sich an einem miesen Tag ein bißchen besser fühlt? Wer weiß? Wenigstens hat niemand versucht, sie samt und sonders völkerzumorden. Noch nicht. Und es heißt, daß sie das beste Sexleben in ganz Kanada haben, was eine ganze Ecke besser ist als alles, womit Roz dieser Tage aufwarten kann, verdammt noch mal.
     
    Sie fährt in südlicher Richtung durch Rosedale, vorbei an den pseudo-gotischen Türmchen, den pseudo-georgianischen Fassaden, den pseudo-holländischen Giebeln, die alle inzwischen eine eigene, kuriose Authentizität angenommen haben: die Authentizität von behaglich abgegriffenem Geld. Mit einem einzigen Blick schätzt sie jedes von ihnen ab: anderthalb Millionen, zwei Millionen, drei, die Immobilienpreise sind zwar gefallen, aber diese Babys hier haben sich mehr oder weniger gehalten, gut für sie, irgendwas muß in diesem ganzen Auf und Ab schließlich Bestand haben. Auf wen oder was kann man sich dieser Tage schon noch verlassen? (Nicht auf den Aktienmarkt, das ist sicher, und dem Himmel sei Dank, daß sie ihr Portefeuille gerade noch rechtzeitig umgeschichtet hat.) So sehr sie diese affektierten, eingebildeten, selbstgefälligen Oberklassehäuser früher auch haßte, im Laufe der Jahre hat sie sie richtig ins Herz geschlossen. Selbst eins davon zu besitzen, trägt einiges dazu bei. Das, und das Wissen, daß viele der Leute, die in ihnen leben, nicht besser sind, als sie sein sollten. Nicht besser als sie.
    Sie fährt die Jarvis hinunter, einst die Straße der oberen Zehntausend, dann der Rotlichtbezirk, jetzt nicht sehr überzeugend instand gesetzt, biegt westlich in die Weiland und mogelt sich auf das Universitätsgelände, wo sie dem Wärter erzählt, daß sie nur jemanden in der Bibliothek abholen will. Er winkt sie durch – sie wirkt glaubhaft, oder besser gesagt, ihr Auto tut es –, und sie fährt um den kreisförmigen Campus herum und an der McClung Hall vorbei, dem Schauplatz ausschweifender Erinnerungen. Es ist schon komisch, daß sie früher hier gewohnt hat, früher, als sie noch jung und grasgrün war und vor hündischer Begeisterung übersprudelte. Große Hundepfoten auf den Möbeln, große Hundezunge, die hoffnungsvoll und überschwenglich über jedes verfügbare Gesicht leckte. Habt mich gern l Habt mich gern ! Heute nicht mehr. Die Zeiten haben sich geändert.
    Sie biegt in die College Street ein, dann rechts in die University. Was für ein architektonisches Fiasko! Ein klobiger Klotz aus sterilem Stein und Glas neben dem anderen, nichts, was den Blick auf sich zieht, obwohl immer wieder versucht wird, das Ganze mit diesen verstopften kleinen Blumenbeeten aufzumotzen. Was würde Roz tun, wenn sie den Auftrag hätte? Sie weiß es nicht. Vielleicht Rebengänge, oder diese runden Kioske wie in Paris; obwohl alles, was man sich einfallen lassen könnte, aussehen würde, als wäre es gerade einem Vergnügungspark entsprungen. Aber das ist heutzutage schließlich bei allem so. Selbst Originale sehen nachgemacht aus. Als Roz die Alpen das erste Mal sah, dachte sie: Wo bleibt der Heimatchor mit seinen Miedern und Dirndln, damit wir alle mitjodeln können.
    Vielleicht ist es das, was die Leute mit nationaler Identität meinen. Das Hilfspersonal in Trachten. Die Hintergründe. Die Kulissen.
     
    Roz’ Büro befindet sich in einer umgebauten Brauerei. Neunzehntes Jahrhundert, roter Backstein, Fabrikfenster, ein steinerner Löwenkopf über dem Haupteingang, um dem Ganzen einen Hauch von Klasse zu verleihen. Eine der niedlichen Ideen ihres Vaters, das Gebäude instand zu setzen; sonst wäre es abgerissen worden. Es war seine erste wirklich große

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