Die Räuberbraut
Nasen an das gläserne Fenster der Zeit gepreßt. Sie können nie tatsächlich auf dem Schlachtfeld sein, sie können nie an den Augenblicken des größten Triumphs teilhaben, oder an denen des tiefsten Kummers. Ihre Nach-Schöpfungen sind bestenfalls wächsernes Flickwerk. Wer würde schon Gott sein wollen? Wer würde schon die ganze Geschichte kennen wollen, ihre gewaltsamen Zusammenstöße, ihre Handgemenge, ihre tödlichen Ausgänge, bevor sie auch nur angefangen hat? Zu traurig. Und zu demoralisierend. Für einen Soldaten am Vorabend der Schlacht ist Unwissenheit dasselbe wie Hoffnung. Obwohl weder das eine noch das andere ein Segen ist.
Tony legt ihren Kugelschreiber hin. Diese Gedanken sind noch zu nebulös, um für den vorliegenden Zweck formuliert zu werden, nämlich einen Vortrag, von dem sie versprochen hat, daß sie ihn in zwei Monaten vor der »Gesellschaft der Militärhistoriker« halten wird. Worauf sie hinauswill, ist die Niederlage, die Otto II. am 13. Juli 982 gegen die Sarazenen erlitt, und die Tatsache, daß spätere Chronisten sie als moralisches Exempel darstellten. Es wird ein guter Vortrag werden, gut genug – ihre Vorträge sind immer gut genug –, aber je mehr Zeit vergeht, desto mehr kommt sie sich auf derartigen Veranstaltungen vor wie ein sprechender Hund. Niedlich, wirklich; ein toller Trick; so ein netter Hund; aber nichtsdestoweniger ein Hund. Früher dachte sie, ihre Arbeit würde auf der Grundlage ihrer Qualität akzeptiert oder abgelehnt, aber inzwischen hat sie den Verdacht, daß es irgendwie nicht so sehr auf diese Qualität ihrer Vorträge ankommt. Worauf es ankommt, ist ihr Kleid. Man tätschelt ihr den Kopf, lobt sie, füttert sie mit Hundekuchen von der besseren Sorte und schickt sie dann weg, damit die Jungs im Hinterzimmer zum eigentlichen Thema kommen können, nämlich wer von ihnen der nächste Präsident der Gesellschaft werden wird.
Wie paranoid. Tony verdrängt diese Gedanken und steht auf, um sich ein Glas Wasser zu holen.
Sie ist im Keller, in ihrem Morgenmantel und ihren Waschbärenpantoffeln, mitten in der Nacht. Sie konnte nicht schlafen, und sie wollte West nicht stören, indem sie in ihrem Arbeitszimmer arbeitete, das neben dem Schlafzimmer liegt. Ihr Computer gibt piepsende Geräusche von sich, und das Licht könnte West wecken. Als sie aus dem Bett kletterte, als sie auf Zehenspitzen aus dem Zimmer schlich, schlief er wie ein Unschuldslamm und schnarchte auch wie eins, rhythmisch, leise, zum Verrücktwerden.
Falscher, verräterischer West. Unentbehrlicher West.
Der eigentliche Grund dafür, daß sie heruntergekommen ist, ist jedoch der, daß sie das Telefonbuch konsultieren wollte, die Gelben Seiten, unter Hotels, und sie wollte nicht, daß West sie dabei überraschte. Sie wollte nicht, daß er merkt, daß sie ihm nachgeschnüffelt hat, ihm und Zenia, daß sie sein Telefongekritzel gelesen hat. Sie wollte ihn nicht enttäuschen, oder, schlimmer noch, alarmieren. Inzwischen hat sie jedes Hotel der Stadt nachgeschlagen, das mit A anfängt. Sie hat sich eine Liste gemacht: das Alexandra, das Annex, das Arnold Garden, das Arrival, das Avenue Park. Sie könnte sie alle anrufen, den Anschluß verlangen, den West notiert hat, ihre Stimme verstellen – sie müßte nicht einmal etwas sagen, sie könnte einfach so tun, als wäre sie einer dieser ins Telefon keuchenden Perverslinge dann würde sie ja sehen, ob es sich wirklich um Zenia handelt.
Aber eines der Telefone steht im Schlafzimmer, direkt neben dem Bett. Was sollte West daran hindern, das leise Plink zu hören, das es macht, wenn man einen der anderen Apparate benutzt, und abzuheben und mitzuhören? Sie könnte natürlich auch Wests Telefon benutzen, die Gegenwind-Leitung; aber es steht genau über dem Schlafzimmer, und welche Erklärung sollte sie abgeben, wenn sie dort oben überrascht würde? Da war es schon besser zu warten. Wenn Zenia abgewehrt werden soll – und im Augenblick hat Tony nicht die leiseste Ahnung, wie dies bewerkstelligt werden könnte –, muß West so weit wie möglich aus der Sache herausgehalten werden. Er muß isoliert werden. Er hat schon genug Schaden erlitten. Für zarte und empfindsame Seelen wie West ist die wirkliche Welt, vor allem die wirkliche Welt der Frauen, ein viel zu unwirtlicher Ort.
Das Zimmer, in dem Tony schreibt, ist das Spielzimmer; jedenfalls haben sie und West es so genannt. Es handelt sich um den größeren Teil des Kellers, zwischen dem
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