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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Könnte sie doch das Zauberwort sagen – Shazam! –, das die Zeit dazu bringen würde, sich zurückzudrehen, die Kronen auf Zenias Zähnen dazu bringen würde, abzuspringen und die toten Stümpfe darunter zu enthüllen, ihren keramischen Blick schmelzen, ihre Haare weiß machen, ihre aminosäuregepolsterte Östrogen-Ersatzhaut schrumpeln und ihre Brüste platzen lassen würde wie Trauben, so daß ihre Silikonwölbungen durch den Raum schwirren und an die Wand klatschen würden.
    Was wäre Zenia dann? Menschlich, wie alle anderen. Es würde ihr gut tun. Vor allem würde es Roz gut tun, weil es die Chancen gleicher verteilen würde. So jedoch wird Roz nur mit einem Korb voller häßlicher Adjektive bewaffnet in den Krieg ziehen, einer Handvoll unwirksamer Kieselsteine. Was genau kann sie tun, Zenia antun? Nicht so furchtbar viel, weil es nichts geben kann, was Zenia von ihr will. Nicht mehr.
    Mitten in diesen rachsüchtigen und fatalistischen Überlegungen kommt ihr der Gedanke, daß Zenia vielleicht nicht nur hier sitzt, um darauf zu warten, daß Roz zum Angriff übergeht. Sie könnte aus einem bestimmten Grund hier sein. Sie könnte auf Beute aus sein. Vergrabt das Silber! Was will sie, auf wen hat sie es dieses Mal abgesehen? Bei der Vorstellung, daß sie selbst es sein könnte – aber wie, aber wieso? –, läuft ein kalter Schauder über Roz’ Rücken.

16
    Wie ist Roz hierher gekommen, vor das Toxique? Mit Hilfe ihrer Füße, wie sonst, aber sie kann sich nicht daran erinnern, ihre Tasche zusammengesucht zu haben, aufgestanden zu sein, Zenia mutiger-, aber auch idiotischerweise den Rücken zugedreht und sich in Bewegung gesetzt zu haben; sie wurde hinausgestrahlt, wie in den Science-fiction-Filmen der fünfziger Jahre, zerlegt in einen Wirbel aus schwarzen und weißen Elementen und dann vor der Tür wieder zusammengesetzt. Sie umarmt erst Tony, dann Charis. Sie küßt sie nicht auf die Wangen. Küsse sind Show, Umarmungen echt.
    Tony ist so winzig, Charis ist so dünn, beide sind völlig durcheinander. Roz hat ein Gefühl wie an dem Morgen, an dem sie die Zwillinge umarmte, erst die eine, dann die andere, dem Morgen ihres ersten Schultages. Sie möchte ihre Gluckenflügel über sie breiten, ihnen Mut zusprechen, ihnen sagen, daß alles gut werden wird, daß sie nur tapfer sein müssen; aber sie hat es mit Erwachsenen zu tun, die beide auf ihre unterschiedliche Art klüger sind als sie, und sie weiß, daß sie ihr kein Wort glauben würden.
    Sie sieht ihnen nach; Tony huscht an ihrer unsichtbaren Flugbahn entlang, Charis geht gemächlicher, ein zögernder Trott. Ja, beide sind klüger als sie; Tony besitzt einen brillanten Verstand, auch wenn er seine Grenzen hat, und Charis hat etwas anderes, schwerer zu fassen, und irgendwie nicht ganz geheuer; manchmal ist sie Roz richtig unheimlich, weil sie Dinge weiß, die sie unmöglich wissen kann. Aber keine der beiden ist gewieft, oder wie immer man es nennen will. Roz rechnet ständig damit, daß sie ohne nach rechts oder links zu sehen über die Straße laufen und von einem Lastwagen zermatscht werden, oder daß sie überfallen werden, vor ihren Augen. Entschuldigen Sie , Madam , das hier ist ein Überfall. Wie bitte? Ein was? Was ist ein Überfall? Kann ich Ihnen dabei behilflich sein?
    Überhaupt nicht gewieft, und Zenia ist eine Straßenkämpferin. Sie tritt hart, sie tritt unter die Gürtellinie, ohne Rücksicht auf Verluste, und es gibt nur eines, was man dagegen tun kann: zuerst zutreten, mit Eisen unter den Sohlen. Falls es wirklich dazu kommen sollte, daß Messer gezückt werden, wird Roz auf sich allein gestellt sein. Und dann braucht sie weder Tonys Analyse der Verwendung von Messern durch die Jahrhunderte noch Charis’ Wunsch, nicht über scharfkantige Besteckteile zu diskutieren, weil sie so negativ sind. Sie braucht nur zu wissen, wo die Halsschlagader ist, damit sie sich auf sie stürzen kann.
    Das Problem ist, daß Zenia keine Halsschlagader hat. Oder falls sie eine hat, ist Roz noch nicht dahintergekommen, wo sie ist, oder wie sie an sie herankommt. Die Zenia von früher hatte kein erkennbares Herz, und inzwischen hat sie vielleicht nicht einmal mehr Blut. Reines Latex fließt durch ihre Adern. Oder geschmolzener Stahl. Außer, sie hat sich verändert, und danach sieht es nicht aus. Jedenfalls ist dies die zweite Runde, und Roz ist bereit und weit weniger verletzlich, weil es dieses Mal keinen Mitch mehr gibt.
     
    All diese Entschlossenheit und

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