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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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möglich, sondern sogar notwendig machte?
    Denn sie sprach eine Einladung aus, daran gibt es nichts zu deuteln. Sie wußte nicht, daß sie es tat, aber Unkenntnis in derartigen Dingen ist keine Entschuldigung. Sie machte die Tür weit auf, und herein kam Zenia, wie eine lange verlorene Freundin, wie eine Schwester, wie ein Windstoß, und Tony hieß sie willkommen.
    Es war vor langer Zeit, in den frühen sechziger Jahren, als Tony neunzehn war; keine Zeit, an die sie sich mit Freude erinnert, vor der Ankunft von Zenia. Im Nachhinein betrachtet erscheint sie ihr leer, dürftig, ohne Tröstungen; obwohl sie damals, als sie diese Zeit durchlebte, das Gefühl hatte, ganz gut zurechtzukommen.
    Sie studierte viel, sie aß und schlief, sie wusch ihre Strümpfe im Handwaschbecken im zweiten Stock der McClung Hall und drückte sie in einem Handtuch aus und hängte sie ordentlich über den scheppernden Heizkörper in ihrem Zimmer, an einen Kleiderbügel, der an einem Stück Schnur von der Gardinenstange hing. Wie Mäuse auf einem Feld besaß sie verschiedene kleine, ausgetretene Trampelpfade, die sie durch die Wochen geleiteten; solange sie auf ihnen blieb, war sie sicher. Sie war hartnäckig, sie stapfte weiter, die Nase dicht am Boden, eingehüllt in eine schützende Gefühllosigkeit.
    Es war November, wie sie sich erinnert. (Sie hatte einen Wandkalender, auf dem sie die Tage durchstrich, obwohl es kein besonderes Datum gab, auf das sie zustrebte oder auf das sie sich freute; aber es gab ihr das Gefühl, sich vorwärts zu bewegen.) Sie wohnte seit drei Jahren in der McClung Hall, seit dem Tod ihres Vaters. Ihre Mutter war schon früher gestorben und befand sich zur Zeit in einem Metallkanister in der Form einer Miniaturwasserbombe, den sie in einem Fach ihres Schranks aufbewahrte, hinter ihren zusammengefalteten Pullovern. Ihr Vater lag in der Nekropolis, aber seine aus den vierziger Jahren stammende deutsche Pistole befand sich in der Schachtel mit altem Christbaumschmuck, die so ziemlich das einzige war, was Tony aus ihrem Elternhaus behalten hatte. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihre Eltern wiederzuvereinen – eines Tages mit einer Schaufel in die Nekropolis zu gehen und ihre Mutter neben ihren Vater zu pflanzen wie eine aluminiumlegierte Tulpenzwiebel –, unterließ es jedoch, weil sie vermutete, daß zumindest ihre Mutter keine Mühe gescheut hätte, dies zu verhindern. Abgesehen davon machte es ihr nichts aus, ihre Mutter bei sich im Zimmer zu haben, in ihrem Schrank, wo sie ein Auge auf sie haben konnte. (Weise ihr einen festen Platz zu. Binde sie fest. Zwing sie dazu, sich nicht von der Stelle zu rühren.)
    Tony hatte ein Zimmer für sich allein, weil das Mädchen, das es eigentlich mit ihr teilen sollte, eine Überdosis Schlaftabletten genommen und den Magen ausgepumpt bekommen hatte und dann verschwunden war. Das taten die Leute oft, Tonys Erfahrung nach. Bevor sie verschwand, hatte Tonys Mitbewohnerin wochenlang den ganzen Tag vollständig angekleidet im Bett gelegen und Taschenbuchromane gelesen und leise vor sich hingeschluchzt. Tony hatte es gehaßt. Es hatte sie mehr gestört als die Schlaftabletten.
    Tony hatte das Gefühl, allein zu leben, aber natürlich war sie von anderen umgeben; anderen Mädchen, oder waren es Frauen? Die McClung Hall wurde als Frauenwohnheim bezeichnet, aber sie selbst nannten sich »Mädchen«. He, Mädchen, riefen sie zum Beispiel, wenn sie die Treppe heraufliefen. Ratet mal, was mir passiert ist!
    Tony hatte nicht das Gefühl, mit diesen anderen Mädchen viel gemein zu haben. Gruppen von ihnen verbrachten die Abende – an denen sie keine Verabredung hatten – im Gemeinschaftszimmer, lümmelten auf dem trostlosen, orangebraunen Sofa und den drei viel zu dick gepolsterten und stellenweise aufgeplatzten Sesseln herum, in Schlafanzügen und Hausmänteln und großen, stacheligen Lockenwicklern, und spielten Bridge und rauchten und tranken Kaffee und zerlegten ihre männlichen Bekanntschaften in ihre Einzelteile.
    Tony selbst ging nie aus; sie hatte niemand, mit dem sie hätte gehen können. Es machte ihr nichts aus; sie war glücklicher in der Gesellschaft von Menschen, die vor langer Zeit gestorben waren. Auf diese Weise gab es keine schmerzhaften Spannungen, keine Enttäuschungen. Nichts zu verlieren.
    Roz gehörte zu den Mädchen aus dem Gemeinschaftszimmer. Sie hatte eine laute Stimme und nannte Tony Toinette, oder schlimmer noch, Tonikins ; schon damals wollte sie Tony ständig

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