Die Räuberbraut
Heizungsraum und der Waschküche, und anders als diese beiden Räume ist es mit strapazierfähigem Teppichboden ausgelegt. Wests Spiel ist ein Billardtisch, der einen relativ großen Teil des Raums einnimmt und zu dem eine zusammenklappbare Tischtennisplatte gehört, die man darüberlegen kann; auf dieser Platte schreibt Tony gerade. Tony ist keine besonders gute Billardspielerin – sie versteht zwar die Strategie, aber sie stößt immer zu hart zu, sie besitzt keine Finesse; dafür ist sie ein As im Tischtennis. Bei West ist es genau umgekehrt – trotz seiner erstaunlichen, affenartigen Reichweite ist er, wenn es um Schnelligkeit geht, eher ungeschickt. Um ihm eine Vorgabe zu geben, spielt Tony manchmal mit der rechten Hand, mit der sie nicht so gut ist wie mit der linken, obwohl sie ihn selbst dann noch schlagen kann. Wenn Tony beim Billard zu viele Niederlagen einstecken muß, schlägt West eine Partie Tischtennis vor, obwohl von vorneherein feststeht, daß sie ihn dabei abledern wird. In dieser Hinsicht ist West sehr rücksichtsvoll. Es ist eine Form von Ritterlichkeit.
Was ein Maßstab dafür ist, wieviel für Tony auf dem Spiel steht.
Aber Tischtennis ist nur ein Zeitvertreib. Tonys eigentliches Spiel befindet sich in der Ecke, neben dem winzigen Kühlschrank, den sie für Eiswasser und Wests Bier hier unten stehen haben. Es ist ein großer Sandkasten, den sie vor ein paar Jahren bei einer Versteigerung in einem Kindergarten gekauft hat. Aber er ist nicht mit Sand gefüllt. Er enthält eine dreidimensionale Karte von Europa und dem Mittelmeerraum; hergestellt aus einer gehärteten Paste aus Mehl und Salz, mit reliefartigen Bergen und Wasserflächen aus blauem Plastilin. Tony hat diese Karte schon viele Male verwenden können, hat Kanäle hinzugefügt und wieder entfernt, Sümpfe verschwinden lassen, Küstenlinien verändert, Straßen und Brücken und Dörfer und Städte auf- und wieder abgebaut und Flüsse umgeleitet, je nachdem, wie die Situation es verlangte. Im Augenblick zeigt die Karte das zehnte Jahrhundert: genauer gesagt, den Tag der schicksalhaften Schlacht Ottos II.
Für die Armeen und Zivilbevölkerungen nimmt Tony keine Nadeln oder Fähnchen, nicht in erster Linie. Sie nimmt Küchengewürze, für jeden Stamm und jede ethnische Gruppierung ein anderes: Nelken für die germanischen Stämme, rote Pfefferkörner für die Wikinger, grüne Pfefferkörner für die Sarazenen, weiße für die Slawen. Die Kelten sind Koriandersamen, die Angelsachsen Dill. Schokoladenstreusel, Kümmelkörner, vier Sorten Linsen und kleine Silberkügelchen verkörpern die Magyaren, die Griechen, die nordafrikanischen Königreiche und die Ägypter. Für jeden bedeutenden König, Heeresführer, Kaiser oder Papst gibt es ein Monopoly-Männchen aus Plastik; Gebiete, in denen sie die tatsächliche oder nominelle Souveränität besitzen, sind durch kleingeschnittene Cocktailstäbchen in den entsprechenden Farben markiert, die in Radiergummistückchen stecken.
Es ist ein komplexes System, aber sie zieht es schematischeren Darstellungen vor, oder auch solchen, die nur Armeen und Stützpunkte zeigen. Mit Hilfe ihres Systems kann sie Bevölkerungsvermischungen und -Verschmelzungen durch Eroberungen oder Sklavenhandel darstellen, denn Bevölkerungen sind nun einmal keine homogenen Blöcke, sondern ein Gemisch. Es gibt weiße Pfefferkörner in Konstantinopel und Rom, von den roten Pfefferkörnern, die sie beherrschen, als Sklaven dorthin verkauft; die grünen Pfefferkörner treiben Handel von Süden nach Norden und von Osten nach Westen und umgekehrt, dazu benutzen sie Linsen. Die fränkischen Herrscher sind in Wirklichkeit Nelken, die grünen Pfefferkörner haben die ligurischen Koriander infiltriert. Es herrscht ein ständiges Ebben und Fluten, ein ineinander Aufgehen, eine Verschiebung von Territorien.
Um zu verhindern, daß die leichteren Körner überall herumkullern, besprüht sie sie mit einem Hauch Haarspray. Ganz vorsichtig, damit sie nicht weggepustet werden. Wenn sie das Jahr oder das Jahrhundert wechseln will, kratzt sie die eine oder andere Bevölkerung von der Oberfläche ab und baut die Szene neu auf. Sie benutzt dazu eine Pinzette; sonst bleiben die Samen an ihren Händen kleben. Die Geschichte ist nämlich nicht trocken, sie ist klebrig, man kann sich die Hände daran schmutzig machen.
Tony zieht einen Stuhl an ihren Sandkasten und setzt sich, um ihn zu studieren. An der Ostküste Italiens, in der Nähe von
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