Die Räuberbraut
anziehen, wie eine Puppe. Tony hatte sie nicht besonders gemocht. Sie fand sie aufdringlich und taktlos und erdrückend.
Umgekehrt hielten die meisten der Mädchen Tony für ein bißchen komisch, verhielten sich ihr gegenüber aber nicht feindselig. Statt dessen machten sie sie zu einer Art Maskottchen. Es machte ihnen Spaß, sie mit den verbotenen Sachen zu füttern, die sie in ihre Zimmer geschmuggelt hatten – Schokoladenriegel, Kekse, Kartoffelchips. (Lebensmittel in den Zimmern waren offiziell verboten, weil sie Kakerlaken und Mäuse anlockten.) Es machte ihnen Spaß, ihr die Haare zu zerzausen oder sie schnell einmal an sich zu drücken. Den meisten Leuten fällt es schwer, die Finger von den Kleinen zu lassen – sie erinnern einen so an kleine Kätzchen, an kleine Babys. Unsere kleine Tony.
Sie riefen sie an, wenn sie auf dem Weg zu ihrem Zimmer an ihnen vorbeihuschte: Tony! He, Tony! Tone! Wie geh ’s denn so? Meistens reagierte Tony nicht, oder ging ihnen schon vorher aus dem Weg. Aber manchmal setzte sie sich doch ins Gemeinschaftszimmer und trank ihren satzigen Kaffee und knabberte ihre sandigen Kekse. Dann überredeten sie sie dazu, ihre Namen zu schreiben, vorwärts und rückwärts gleichzeitig, mit der einen Hand so, mit der anderen so; sie scharten sich um sie und staunten über das, was Tonys Meinung nach auf den ersten Blick als das erkennbar war, was es war, ein unbedeutender, zweifelhafter Trick.Tony war nicht die einzige, die eine spezielle Fertigkeit besaß. Ein anderes Mädchen konnte das Geräusch eines startenden Motorboots nachahmen, mehrere andere – darunter auch Roz – malten sich mit Augenbrauen- und Lippenstiften Gesichter auf den Bauch und führten dann eine Art Bauchtanz auf, bei dem die gemalten Münder sich grotesk öffneten und schlossen, und noch eine andere kannte einen Trick, bei dem es um ein Glas Wasser, eine Rolle Toilettenpapier, einen Besenstiel, eine Kuchenform aus Aluminium und ein Ei ging. Tony fand diese Leistungen bedeutend beeindruckender als ihre eigene. Was sie tat, erforderte kein Geschick, keine Übung; es war nur dasselbe, wie wenn man Gummigelenke hatte oder mit den Ohren wackeln konnte.
Manchmal überredeten sie sie dazu, rückwärts für sie zu singen, und wenn sie wirklich keine Ruhe gaben, und Tony sich stark genug fühlte, tat sie ihnen den Gefallen. Mit ihrer überraschend heiseren Moll-Stimme, der Stimme eines erkälteten Chorknaben, sang sie dann:
Gnilrad ym ho,
Gnilrad ym ho,
Gnilrad ym ho,
Enitn (ejmelc,
Reverof (ejnog dna tsol er(a) uoy,
Yrros lufdaerd,
Enitn (ejmelc.
Damit das Versmaß stimmte, behauptete sie, drei der Vokale seien stumm und uo ein Diphthong. Wieso nicht? Alle Sprachen hatten derartige Macken, und das hier war Tonys Sprache; folglich konnte sie mit ihren Regel- und Unregelmäßigkeiten machen, was sie wollte.
Die anderen Mädchen fanden das Lied zum Schreien, vor allem, weil Tony nie lächelte, nie blinzelte, nie eine Miene verzog. Sie sang es völlig ernst. Das lag daran, daß sie es überhaupt nicht komisch fand, dieses Lied über eine Frau, die auf lächerliche Weise ertrank, die nicht betrauert wurde, die schließlich vergessen wurde. Sie fand es traurig. Verloren und für immer fort. Warum lachten sie darüber?
Wenn sie nicht mit diesen Mädchen zusammen war, dachte sie kaum an sie – ihre nervösen Witze, ihren Gruppengeruch nach Schlafanzügen und Frisiercreme und feuchtem Fleisch und Talkumpuder, ihr begrüßendes Zwitschern und Trillern, ihr nachsichtiges Lächeln hinter Tonys Rücken: Unsere drollige Tony. Statt dessen dachte sie an Kriege.
An Kriege, und an Schlachten, was nicht dasselbe war.
Am liebsten spielte sie entscheidende Schlachten nach, um zu sehen, ob sie denkbarerweise von der Verliererseite hätten gewonnen werden können. Sie studierte die Karten und die Lageberichte, die Truppenaufstellungen und die Technologien. Die Wahl eines anderen Geländes hätte die Waagschale vielleicht anders ausschlagen lassen, oder eine andere Denkweise, denn auch Gedanken konnten eine Technologie sein. Ein starker religiöser Glaube, denn auch Gott war eine militärische Waffe. Oder anderes Wetter, eine andere Jahreszeit. Regen war von entscheidender Bedeutung; Schnee ebenfalls. Und Glück.
Sie war nicht voreingenommen, sie war nie für die eine und gegen die andere Seite. Schlachten waren Rechenaufgaben, die vielleicht auf andere Weise hätten gelöst werden können. Manche waren unter keinen
Weitere Kostenlose Bücher