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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Umständen zu gewinnen gewesen; andere doch. Sie hatte ein Heft, in dem sie ihre alternativen Lösungen mit den dazugehörigen Ergebnissen festhielt. Die Ergebnisse waren gefallene Männer. Verluste nannte man das, als hätte man etwas verloren, was man später wiederfinden könnte. In Wirklichkeit bedeutete es »getötet«. Verloren und für immer fort. Tut uns leid , sagten die Generäle hinterher, falls sie selbst noch am Leben waren.
    Tony war klug genug, den anderen Mädchen nichts von diesem Interesse zu erzählen. Wenn es bekannt geworden wäre, hätte es für sie das Aus bedeutet: von ein bißchen komisch, aber niedlich zu ein Fall für den Psychiater. Sie wollte sich die Chance auf Kekse nicht verscherzen.
     
    Es gab noch ein paar andere Mädchen im Wohnheim, die wie Tony waren, sich an den Bridgespielerinnen in ihren Bademänteln vorbeimogelten und sich vor den gemeinsamen Mahlzeiten drückten. Diese Mädchen schlossen sich jedoch nicht zusammen; sie sprachen nicht einmal miteinander, von einem gelegentlichen Nicken oder Hallo abgesehen. Tony vermutete, daß sie heimliche Interessen hatten, heimliche und lächerliche und unakzeptable Ambitionen, genau wie sie.
    Zu diesen Einzelgängern gehörte Charis, bloß daß sie damals nicht Charis hieß, sondern schlicht und einfach Karen. (Sie änderte ihren Namen irgendwann in den sechziger Jahren, als es eine Menge nomenklatorische Mutationen gab.) Charis-Karen war ein dünnes Mädchen; schlank und biegsam waren Begriffe, die einem zu ihr einfielen, schlank und biegsam wie eine Weide mit ihren wogenden Zweigen, ihren zitternden Wasserfällen aus hellen Blättern. Der andere Begriff zu Charis war geistesabwesend.
    Charis mäanderte: Tony sah sie ab und zu, auf dem Weg zu oder von einer Lehrveranstaltung, wie sie schräg über eine Straße spazierte, immer – so schien es – in Gefahr, überfahren zu werden. Sie trug lange Dirndlkleider, unter denen ein Stück Unterrock hervorlugte; Sachen fielen aus ihren Handtaschen, oder vielmehr ihren Beuteln, die gewebt, zerfranst und bestickt waren. Wenn sie sich einmal ins Gemeinschaftszimmer verirrte, dann um zu fragen, ob jemand ihren anderen Handschuh gesehen hatte, ihren malvenfarbenen Schal, ihren Füllfederhalter. Meistens hatte niemand was gesehen.
    Eines Abends, als Tony aus der Bibliothek zurückkam, sah sie, wie Charis die Feuerleiter an der Seite der McClung Hall herunterkletterte. Sie hatte etwas an, was wie ein Nachthemd aussah; jedenfalls war es lang und weiß und wallend. Sie erreichte die unterste Plattform, baumelte einen Augenblick an den Händen, ließ sich dann den letzten Meter fallen und fing an, auf Tony zuzugehen. Ihre Füße waren nackt.
    Sie schlafwandelt, entschied Tony und fragte sich, was sie tun sollte. Sie wußte, daß man Schlafwandler nicht aufwecken sollte, obwohl sie vergessen hatte, wieso nicht. Charis ging sie nichts an, sie hatte nie mehr als zwei Worte mit ihr gewechselt, aber sie hatte das Gefühl, ihr folgen und dafür sorgen zu müssen, daß keine Fahrzeuge mit ihr zusammenstießen. (Wenn dieselbe Szene heute stattfände, hätte Tony auch Vergewaltigung in die Möglichkeiten eingeschlossen: eine junge Frau im Nachthemd, draußen in der Dunkelheit, mitten in Toronto, befände sich in äußerster Gefahr. Vielleicht war Charis auch damals in Gefahr, aber Vergewaltigung gehörte zu dieser Zeit nicht zu Tonys Alltagskategorien. Vergewaltigungen gehörten zu Plünderungen und waren etwas Historisches.)
    Charis lief nicht weit. Sie ging raschelnd durch mehrere Haufen zusammengerechter Blätter, die von den Ahorn- und Kastanienbäumen auf dem Rasen der McClung Hall stammten; dann drehte sie sich um und wanderte denselben Weg zurück, während Tony hinter ihr herschlich wie ein Schmetterlingssammler. Dann setzte sie sich unter einen der Bäume.
    Tony fragte sich, wie lange sie dort bleiben würde. Es wurde allmählich kalt, und sie wollte ins Haus; aber sie konnte Charis nicht einfach im Nachthemd unter einem Baum auf dem Rasen sitzen lassen. Also setzte sie sich unter den nächsten Baum. Der Boden war nicht trocken. Tony hoffte, daß niemand sie hier draußen sehen würde, aber zum Glück war es schon ziemlich dunkel, und sie hatte einen grauen Mantel an. Anders als Charis, die blaß schimmerte.
    Nach einer Weile wurde Tony von einer Stimme aus der Dunkelheit angesprochen. »Ich schlafe nicht«, sagte die Stimme. »Aber trotzdem vielen Dank.«
    Tony war verärgert. Sie hatte das Gefühl,

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